Unser Meiensäss

Nirgends ist Bern weniger Bern als in Bümpliz-Bethlehem. Gret und Hans Reinhard liessen die Quartiere im Westen in den Himmel schiessen, das war kurz nach dem Krieg: Mit dem Wohlstand wurden die Wohnungen knapp, die Leute haben ordentlich Kinder gemacht. Tscharnergut, Gäbelbach, Schwabgut und Bethlehemacker I und II – und dieses auf den ersten Blick so unscheinbare Dutzend Mehrfamilienblöcke an der Meienegg. So verschieden lange Schatten diese Architekturen bis heute werfen, zwischen ikonischen Scheibenhochhäusern und feingliedrigen Heimatstilismen, Türmen und Häuschen, signiert sind sie alle von Gret und Hans: den Modernisten von Bümpliz.

Vor dem zeitgenössischen Imperativ der Verdichtung haben Gret, Hans und ihre grosszügigen Würfe heute einen schweren Stand, überhaupt die zurückhaltend-modernen Pioniere des Siedlungsbaus nach dem Krieg. Die Eigentümerin der Meienegg, einst Familienbaugenossenschaft und heute platzsparender Fambau, möchte die Siedlung schleifen und neu aufstellen. Die Überbauung sei nicht mehr zeitgemäss, die Grundrisse zu klein, eine Sanierung zu teuer. Das Architekturbüro aus Zürich hat den passenden Entwurf mit Familienzuschnitt schon aus dem Ärmel geschüttelt, auch die Stadt freut sich mit. Und die Bümpliz Woche fragt, wie sich das denn 2026 anfühlen könnte im neuen Quartier. Antwort gibt, ausgewiesen wird das im Quartierblatt leider nicht, wahrscheinlich die PR-Fachkraft der Fambau. Die hatte einen sehr guten Nachmittag:

Bei der Tramstation Stöckacker aussteigen, unter den Linden am Stöckackerplatz durch die Petanque spielenden Quartierbewohner bummeln, weiter zum Migros TakeAway im Erdgeschoss einen Basilikumtopf kaufen, der ehemaligen Nachbarin Frau Krebs auf dem Balkon der Alterswohnung zuwinken. Durch den Gassenraum im Schaufenster des Textil-Druck-Ateliers die neusten Siebdruckmuster entdecken. Auf der Gartenbank rastend dem Aufbau des Bring- und Hol-Flohmis zuschauen (…) Weiter abbiegen zum Keltenplatz, wo Fritz und Rosa mit anderen Jugendlichen mit dem Skateboard Frontside-180 üben, (…) im Gemeinschaftsgarten fünf reife Tomaten und eine Gurke pflücken, hinter dem Pergola-Spielplatz unter den tummelnden Kindern Frida und Max entdecken und sie zum Panzanella rufen.

Frida und Max schmeckt der Brotsalat und die Frage nach ihrer sozialen Herkunft wird den schon etwas pfiffigeren Fritz und Rosa auf dem Rollbrett berechtigterweise scheissegal sein. Nach der Schule kiffen sie sich sowieso mit Blerim, Farah, Yirgalem und Jumana die Birne weg. Papa und Mama rühmen gerne das kunterbunte Lebensgefühl westlich vom Europaplatz, wenn der noch kinderlose Besuch aus dem Breitenrain mit ihnen am sauteuren Gartentischlein sitzt. Ja, würde der Alima-Markt die Herkunft vom Gemüse sorgfältiger ausweisen, sie täten da auch einkaufen. Zum Panzanella-Plausch erklärt Mami ihrer Frida und ihrem Max noch dies: «Wisst ihr, woher das italienische Essen kommt, das ihr so gerne mögt? Das haben die italienischen Gastarbeiter mitgebracht, als sie in die Schweiz gekommen sind. Da wart ihr noch gar nicht auf der Welt.»

Zurück zu Gret und Hans, die ihre Namen übrigens nicht ihren ultra-woken Eltern zu verdanken haben, sondern einem soliden Erstweltkrieg-Jahrgang. Gret und Hans Reinhard sind längst verstorben. Zynische Zungen sagen: Sie haben sich die grössten Betongrabsteine der Stadt gleich selber gebaut. Immerhin wohnen da Menschen drin, denkt man sich – jedenfalls hinterlassen sie ein bedeutendes Lebenswerk in sich schlüssiger Nachkriegsarchitekturen, wie es in der Schweiz beispiellos ist. Sie haben die Winkel gezeichnet, hinter denen sich Fritz, Rosa und ihre neuen migrantischen Freund*innen verstecken können, wenn sie high werden wollen.

Der Heimatschutz Bern-Mittelland sieht die Sache etwas weniger locker: «Abriss und Neubau – oder im Klartext: Verdrängen statt verdichten. (…) Unter dem Deckmantel der Verdichtung sollen die mehr als 200 günstigen, einwandfreien Kleinwohnungen durch massiv teurere Neubau-Familienwohnungen ersetzt werden», heisst es auf der Website zum bedrohten Ensemble. Die Meienegg, «ein Meisterstück des sozialen Wohnungsbaus, ein Baudenkmal von nationaler Bedeutung.» Im Portrait der Berner Zeitung doppelt Vorstandsmitglied Raphael Sollberger nach:

Es wird dann zwar höher gebaut und hat mehr und grössere Wohnungen, aber es leben immer noch gleich viele Menschen in der Siedlung– wobei aufgrund der deutlich höheren Mietzinse einfach die schwächste soziale Schicht aus der Stadt verdrängt wird und sich dort, wo es noch vereinzelt vergleichbare Mietzinse gibt, nämlich in der Agglomeration, eine neue Bleibe suchen muss. Das führt letztlich zu einer Ausdehnung der Siedlungsfläche und damit zum Gegenteil der gewünschten Verdichtung.

Von der Stadt wurde mittlerweile eine Zwischenlösung in Aussicht gestellt, in der die konkurriernden Interessen (vorerst) noch friedlich koexistieren sollen. Ein bisschen Neubau hier, ein bisschen Originalsubstanz da – oder das Schlechteste aus beiden Welten. Gret dreht sich im Grab und der Hans beisst sich am Sargdeckel den letzten Zahn ab, stellt man sich vor, man gönnte ihnen jede Gleichgültigkeit.

Und dann stellt Frida wieder die dummen Fragen, wie kleine Nadelstiche in einen Ballon, der die Luft schon ganz von selbst verliert: «Papi, wieso darf man ein paar alte Häuser abreissen und andere nicht?» – «Das entscheidet eigentlich der Denkmalschutz. Das sind Leute, die sehr viel Zeit mit alten Häusern verbringen, die verstehen dann, wieso ein Balkongeländer ist, wie es ist. Dann können sie manchmal nächtelang nicht einschlafen, weil sie ein Gebäude zwar gut finden, aber es wird dann trotzdem abgerissen, weil es nicht ganz so wichtig ist. Darüber muss man immer streiten, es gibt kein Richtig oder Falsch. Und manchmal haben auch einfach die Recht, die mehr Geld haben.» – «Mega blöd. Und wer ist früher da gewohnt, wo wir jetzt wohnen?»

Der junge Vater legt seinen Kopf in den verspannten Nacken und schaut in den blauen Himmel über Bethlehem, so, wie es manche Menschen auf der Suche nach einem rettenden Einfall gerne tun. Er probiert etwas:

Ganz früher haben da Familien gewohnt wie wir, Mami, du, Max und ich. Aber du musst dir vorstellen: Die Fenster waren viel kleiner als unsere Fenster und es hatte zwei kleine Zimmer, ein Bad, eine Küche und ein grösseres Zimmer für den Fernseher. Es wurde uns dann zu eng. Mami wollte einen Garten für sich, dann sind wir weggezogen. Dann sind die Italiener gekommen und später die Eltern von Blerim mit den lustigen Satellitenschüsseln auf dem Balkon. Es hatte aber auch junge Leute, Studentinnen und Studenten. Und alleinerziehende Väter, Leute, die gerade keinen Job mehr haben oder solche, die zuviel Alkohol trinken. Die haben aber sicher eine neue gemütliche Wohnung gefunden, weisst du.

Rosa und der Vater, wie sie auf dem Trottoir entlanggehen. Bei der Unterführung grüsst der Chauffeur der Sieben seinen Kollegen im Achti mit einer schmucklosen Handbewegung. Ein müdes Glück liegt über Bern West, die Hochhäuser im Rücken der beiden, wären sie Bäume, wiegten ein bisschen im Wind.

«Papi, warum schläfst du eigentlich seit einer Woche auf dem Sofa?»

Obwohl das Siegerprojekt für die Überbauung kürzlich den Medien vorgestellt wurde, ist der Konflikt zwischen Eigentümerin und Denkmalpflege juristisch noch nicht ausgetragen. Die bestehende Siedlung Meienegg ist auf der Roten Liste des Schweizer Heimatschutzes aufgeführt. Auch bedroht sind Teile der Überbauung Tscharnergut, die ebenfalls der Fambau gehört.

Bilder: Luftansicht Bümpliz-Bethlehem: Siedlungen der Nachkriegszeit in Bümpliz-Bethlehem / Meienegg: Luftansicht 1960er-Jahre / Meienegg historische Innenansicht: Rote Liste Schweizer Heimatschutz