Andrea Kaisers Abgesang auf den letzten mehr als brauchbaren Musikzubehörladen in Bern.
Es mutete wie ein Quasiparadies für musikalische Menschen an: Das «Overdrive» an der Maulbeerstrasse, bis vor zwei Jahren hiess es noch «MusiX», dieser Vorgarten Eden für Lärmer im Allgemeinen und Effektgerätefetischisten im Speziellen. Eine Unzahl an Instrumenten glänzte den Wänden entlang, Verstärker und Lautsprecher aller Couleur türmten sich hoch, allerlei digitaler Firlefanz bot sich dem lachenden Auge, eine schiere Unmenge an Kleinkram wie Adapter, Saiten, Batterien, Stecker, Halterungen, Kabel harrte in den Schubladen und Regalen. Im Zeitalter des Online-Handels wirkte es fast surreal, war aber Wirklichkeit: Was die Musikerseele begehrte, war auf Lager, bereit, bestaunt, ausprobiert, auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Was nicht verfügbar war, wurde bestellt, wenn auch nur zum Begaffen, Testen und dann Linksliegenlassen.
In diesem Elysium schwirrten gute Geister umher, die Cherubim namens Päddu, Jérôme, Roman, Räffu. Fuck Google, ask the guys. Wer ein esoterisches Pedal suchte, nur umständlich umreissen konnte, was ungefähr gewünscht ist, war hier am richtigen Ort und wurde in eine vielversprechende Richtung verwiesen. Dieser Service machte sich auch in den Umsätzen bemerkbar. Dass die Mitarbeiter, selber eher Musiker als Kommerzialräte, ausserdem noch zuvorkommend und unkompliziert waren, verlieh dem Overdrive den Eindruck einer Wohngemeinschaft. Manche Leute betraten den Laden ohne fassbare Motivation, nur um sich auf dem Gibson-Sofa zu räkeln und ein bisschen Kulturluft zu schnuppern.
Doch dann geschah es. Als hätte jemand ein verbotenes Instrument der Erkenntnis bespielt, erschien der Erzengel Gabriel, der Botschafter des windigen Kapitalismus und zog den Stecker. Besser gesagt: er erschien nicht, er liess verschwinden. Von einem Tag auf den andern fanden die nichtsahnenden Angestellten einen vollständig ausgeräumten Laden vor, nur noch die Theke stand, es hätte auch eine ehemalige Beiz sein können.
Der Lohn der letzten zwei Monate steht aus, aber gekündigt wurde den Mitarbeitern nicht; so können sie nicht mal Hilfe beim RAV beanspruchen. Die Kundschaft wurde über die Vertreibung aus dem Paradies mit einem Newsletter informiert: Der Standort Bern werde in den Lagermoloch in Giebenach «integriert», man bewirke damit eine «hohe Beratungsqualität» durch «fachkundiges Personal». Doppelte Ohrfeige für die Mitarbeiter.
Gemäss Handelsregister ist ein Gabriel Matter einzelunterschriftsberechtigt. Das Unternehmen weist ein Aktienkapital im Nennwert von 1,354 Millionen Schweizer Franken auf. Was für merkantile Winkelzüge stecken hinter diesen Machenschaften, die im Windschatten der Coronakrise am gesunden Menschenverstand vorbeigeschmuggelt werden? Flüchtet der Eigentümer mitsamt Portokasse in eine Steueroase auf den Caymaninseln oder findet er vielleicht Zuflucht an einer Briefkastenadresse in Florida? Glaubt er wirklich, Berner Musikerinnen und Musiker würden die zweistündige Bahnfahrt ins Baselländische auf sich nehmen, nur um dort in der Hochregalhölle bar jeglicher Atmosphäre Geräte von weitem anzustaunen?
Was bleibt – nebst einem beklemmenden Gefühl von Verlust und Ohnmacht? Der Gitarrenchirurg Päddu tritt immerhin die Nachfolge des legendären Philippe Barthe im «Guitar Pit Stop» an. Besitzerinnen und Besitzer von lädierten Gitarren freut’s, die übrigen ehemaligen Mitarbeiter des Overdrives sind so ratlos wie die Berner Kundschaft.
Diese eklige Transaktion ist ein weiterer Etappensieg der neoliberalen Einweggesellschaft, des unpersönlichen Internethandels, der kommerziell sinnvollen Missachtung von Kundennähe und Nachhaltigkeit. Mit dieser Brachialschliessung wird Bern eines guten Ladens beraubt; eine grosse Auswahl, unkompliziertes Testen, persönliche Beratung, fachliche Kompetenz sind abhandengekommen – und auch die Gibson-Couch.