Vielleicht weinen dabei

«Was schmeisst du am liebsten herum?» – «Flaschen», sage ich und Roger Fähndrich lacht. Traurigsein ist einsam, lähmend, auch langweilig, da ist Wut angenehmer; aber nicht für die Person, die die Scherben am Ende zusammenwischen muss. «Und worauf bist du wütend?»

Der Teenage Anger hat Roger Fähndrich nie losgelassen: Die Enttäuschung darüber, dass die Liste der unbegrenzten Möglichkeiten nie annähernd vollständig war und entsprechend die Wut darauf, mehr sein zu wollen als man sein darf in dieser neoliberalen Welt. Es ist erfrischend, wie ernsthaft er das sagt, weil egal wie abgegriffen, wahr ist es ja doch. Seine Musik komme von der Wut her, sagt er, man hört das diesen schlauen, ehrlichen Punksongs an. Und die Wut, das wissen wir Therapie- und Küchentischerfahrene, hat einiges mit Traurigkeit zu tun, so wie all die negativen Gefühle ja irgendwie zusammenhängen, Roger sagt es mit einer wegwerfenden Handbewegung – so klar, so banal. Irgendwann ging es nicht mehr mit der Musik, und das ist mit ein Grund, wieso wir jetzt hier sitzen.

Ich muss auf einer Liste ankreuzen: die negativen Gefühle, über die ich reden will. Wir schwitzen in einer heissen hellen Holzbox mit Plexiglasdach auf dem Waisenhausplatz, Theaterfestival Auawirleben Mai 2022 und Roger Fähndrich, der aus der Pubertät die Auflehnung, aber nicht die Humorlosigkeit mitgenommen hat, lädt ein: ins Center of Negativity, wo man aufgrund der eigenen negativen Gefühle in einem mindestens stündigen Zweiergespräch zum Beispiel ein Diplom ausgestellt bekommt oder ein Portfolio verfassen kann. Ich kreuze Wut, Traurigkeit, Sehnsucht an. Warum steht Sehnsucht auf der Liste, Roger, ist das für dich negativ? «Da würde es ja zum Beispiel darum gehen, dass ich etwas oder jemanden nicht haben kann. Und das wiederum ist verbunden mit einem Gefühl, nicht gut genug zu sein. Was meinst du?» Aber es ist auch Verheissung drin, die Vorstellung nach etwas Anderem, möglicherweise Besserem. Da rutscht das Gespräch in die Utopie ab, endlich.

Auf jeden Fall, es ging nicht mehr mit der Musik, nicht mehr so. «Ein Konzert erzeugt eine soziale Situation, trotzdem fühlte es sich für mich oft wie ein Monolog an.» Das Publikum denkt sich so seine Sachen und kapselt sich nachher daheim wieder ein. Zum anderen auch die Wut, die zu einer bestimmten Art Musik beigetragen hat, zu einem Stil, einer Lautstärke, wie die Stimme benutzt wird, also laut – das schlug irgendwann in chronische Halsschmerzen, chronische Schulterschmerzen um. «Ich mache Musik wie Leute, die mit 27 sterben und bin jetzt schon fast 40. Das ist vielleicht ein Problem.» Ein anderer Umgang bedeutete für Fähndrich auch die Auseinandersetzung mit den negativen Gefühlen, die in diese Kunst fliessen, sie auszuloten, zu erfahren, einmal umzukehren, alles wurde zarter. «Dieses Projekt hat etwas aufgetan. Es ist zwar immer nur jemand, der hier vor mir sitzt, aber immerhin jemand, ich bin nicht mehr allein. Eigentlich hat die Frage, wie ich leben will, immer mit einem Wir zu tun.» Dass er das Center allein führt, soll auch nur in einer Anfangsphase so sein.

Es geht also darum, den «negativen» Gefühlen einen Platz zu geben in der Welt, die Unzufriedenheit nicht nur als persönliche Angelegenheit, sondern vielmehr als Hinweis auf bessere Möglichkeiten, Ideen, Lebensentwürfe zu verstehen. Das Center of Negativity ist Therapiekritik mit therapeutischem Ansatz. «Therapie kommt den Leuten natürlich als erstes in den Sinn, wenn sie hier sitzen, es fühlt sich ja auch ein bisschen danach an.» Das sei nicht schlimm, aber am Ende geht es Roger um Gemeinschaft. «Therapie ist krass individualistisch ausgelegt, die Leute sollen schauen, was in ihrem Möglichen liegt, sich selbst Sorge tragen, es gibt kaum gesellschaftlichen Ausblick; schliesslich geht es auch ein Stück weit darum, sich mit den Dingen abzufinden, um Genügsamkeit.» Das ist ärgerlich, vor allem, wenn es einem nachher besser geht – dabei kann man dagegen ja eigentlich nichts haben. Und dann ist da der Aspekt der (Wieder-)Eingliederung in eine Gesellschaft, in der man, wenn man es sich recht überlegt, eigentlich gar nicht funktionieren will, aber überleben muss. Was, wenn ich mich nicht abfinden will?

Wir reden in Schleifen über kunstunverständige Therapeut:innen, die Einsamkeit beim Reisen, Ayahuasca, Aktivismus, Abhängigkeit, die Badewanne, die Unbeweglichkeit, Plakatwerbung (Roger: «Es ist apokalyptisch.»), schliesslich sind wir uns auch einig, für viele Dinge über keine Sprache zu verfügen. Ein anderer Umgang? «Ich sähe zum Beispiel schon darin revolutionäres Potenzial: Würden alle, die gerade müssten, sich einfach hinlegen. Vielleicht weinen dabei, muss nichtmal sein.»

Mehr zu Roger Fähndrichs Arbeit: www.roger-f.ch. Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Juniausgabe des KSB Kulturmagazins.