Nach Zofingen muss man eigentlich nicht. Aber jetzt stehe ich hier mit meiner Mutter, die Bise bläst uns die Zigaretten aus, wir hüllen unsere Schals um die Ohren. Das Kunsthaus Zofingen liegt sechs Minuten zu Fuss vom Bahnhof entfernt, Richtung Altstadt. Beim Überqueren des Niklaus-Thut-Platzes sage ich, dass es schon schlimm sei hier und meine Mutter sagt: «Ja, so sauber.»
«Manon war für mich in meinen jungen Jahren eine Offenbarung» hatte sie mir zwei Tage zuvor geschrieben. Damals in den frühen Siebzigern, als eine Frau mit Glatze und rot geschminkten Lippen Kunst machte mit ihrem Körper: «La Dame au crâne rasé». Performance und Rauminstallationen, Das Lachsfarbene Boudoir, Das Ende der Lola Montez, später Fotografie, bis heute. Immer in Auseinandersetzung mit dem Bild, das man von sich selbst und andere von einem machen. Im Kunsthaus Zofingen gibt es eine Ausstellung über sie. «Manon. Identität. Selbstdarstellung. Image» heisst das Buch, das meine Mutter mir mitbringt zum Anschauen vorab im Zug, und man sieht dem Buch und auch ihr an, dass sie es sehr gern gehabt hat.
Zofingen ist auch die Heimatstadt meiner Grosseltern, gefühlt allerdings vor allem meiner Grossmutter, die seit ich denken kann bei jeder Gelegenheit davon erzählt. Vom Haus der Eltern mit dem Garten, vom Vati, vom Ernstli, meinem Grossvater, der ganz in der Nähe wohnte und mit dem sie immer den Schulweg teilte den Geleisen entlang. Heute kann sich meine Grossmutter nur noch schlecht erinnern, aber Zofingen bleibt, in goldenes Licht getaucht, obwohl sie lange nicht da war, seit vielen Jahren nicht. Andere Geschichten, die meine Grossmutter erzählt: Während des Krieges kamen sie einmal an ein Mödeli Anke, die Mutter hat es dann sofort eingesotten, weil es so viel länger hält. Meine Grossmutter ist bis heute erzürnt über diesen Vorfall, sie hätte gerne ein Schnitteli gehabt. Und dass sie gerne studiert hätte, Biologie und Botanik, aber der Vati liess sie nicht, also machte sie unwillig den Semer und wurde Lehrerin.
Wahrscheinlich wisse Oma gar nicht, dass es in Zofingen ein Kunsthaus gibt, sagt meine Mutter, als wir dort ankommen. Sehr gross ist es nicht. Draussen steht ein Wagen, «Manons Rettungsdienst», ein Mercedes mit einer Innenauskleidung aus pinkem Kunstfell; Parfum, zwei Proseccogläser und Sprünglis Luxemburgerli sollen helfen in der Not. Die Ausstellung selbst ist ebenfalls klein, aber es gibt einige schöne Begegnungen, Bilder aus einer neueren Reihe namens «Hotel Dolores» und zwei Rauminstallationen: «Lachgas» und «Künstlergarderobe». Der alte Tanzsaal oben ist für «Lachgas» abgedunkelt worden, es hängen drei Kronleuchter, in der Mitte des Raumes ein Spitalbett mit blinkenden Lichtern rundherum: Vielleicht kann man ja in Würde krank werden. In der Ecke hängt ein hässliches pinkes Kleid, das gerne wieder einmal angezogen würde. Einen Raum weiter die «Künstlergarderobe», an der Wand eine Zwangsjacke, die Manon auf vieler ihrer Fotografien trägt, vor dem Spiegel liegen Tabletten herum, Dolo-Kranit, ein Paracetamol-Koffein-Präparat. Schon verstanden: Es geht ums Älterwerden hier, überall. Achtzig Jahre alt wird Manon dieses Jahr, meine Mutter bald pensioniert, ich werde dieses Jahr siebenundzwanzig und meine Grossmutter, sie kann sich an ihr Alter vielleicht nicht mehr erinnern.
Wer mit dem Körper arbeitet in der Kunst, bis zum Schluss, dem bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich mit Schmerz und Zerfall auseinanderzusetzen. Eine Fotografie zeigt eine kahle Wand hinter einem roten Absperrband, da steht in grossen Lettern «Zeit wird knapp». Manon scheint sich nicht zu schämen dafür, eher wirft sie sich rein und die Lämpchen am Krankenhausbett blinzeln einem zu: Man führe mich mit Schmerzen in den Ballsaal.
Bald sind wir wieder draussen in der kalten Luft, an den Geleisen entlang gehen wir zuerst am Kindheitshaus meines Grossvaters vorbei. Es hat einen absurd spitzen Giebel und liegt in einer properen Gegend mit verkehrsberuhigter Strasse, sauber umzäunten Rasenflächen und lustig-verspielter Gartendeko. Der Ernstli bog dann jeweils hier zum Gartentor ein, stelle ich mir vor, und s’Bethli ging noch einige Schritte weiter, ans Ende der Strasse. Aber da sagt meine Mutter schon, oh, schau, das kleine Holzhaus ist noch da, aber alles andere: abgerissen und überbaut, ein uninspirierter Dreifamilienbau mit Wintergarten und Tiefgarage, das dürfen wir Oma nicht erzählen. Sie macht ein Foto, im Wintergarten liegt eine fette Katze. Man bräuchte jetzt vielleicht ein Glas Prosecco oder zwei, um damit zurecht zu kommen.
«Manon» im Kunsthaus Zofingen ist noch bis zum 23. Februar zu sehen, offen jeweils Donnerstagabend, Samstag und Sonntag.