Von der Freude den eigenen Schwengel zu vergessen

Als würden wir im Gemeinschaftsraum der Nervenheilanstalt auf Freunde warten, an zerkratzten Tischen, uns da zwischenzeitlich mit einigen halbreifen Mandarinen vergnügen, Tierchen aus ihren Schinten klauben – den Elefanten klassischerweise.

Solchermassen hingehalten von der Enge des orangen Bähnleins von Bern nach Solothurn diskutieren der Schwab und ich diesdas zu architektonischen Wunderlichkeiten. Das Schöne an Strecken durch die Peripherie, gerade winters: Inmitten unbestellter Äcker und Gartenzäunen blüht im Braun-Grau der Landschaft das Komische der Einfamilienhäuser am sattesten, immerhin. Das Zugfenster als Weitwinkel für die flirrenden Bilder der Zersiedelung – wir sind auf dem Weg an die Filmtage und brennen.

Box Office

Am Set werden wir jedoch erst durch die nicht gerade unkomplizierte Billetterie und digitale Platzreservierungsmaschinerie auf Abstand gehalten. König Zufall regelt dann aber trotzdem erstaunlich früh das Wesentliche und gewährt uns Eintritt. Gnade den hilflos Kurzsichtigen – wir sind dankbar um die Stühle und dass Jungregisseurin Callisto MacNulty uns mit ihrem sinnlichen Portrait Delphine et Carole, insoumuses sofort in die Arme schliesst.

Freundschaft, Aktivismus, Lust – zwei Frauen, die sich katalysieren, getrieben vom schöpferischen Potential neuer Technik und dem wilden Willen gegen die Fratzen der strukturellen Macht. Die Atmosphäre im Rauch hunderter Zigaretten und einer sich schärfenden Maulwurfsperspektive, der Sensibilisierung hin zu minoritären Positionen: Schwarzarbeitern, Prostituierten. Und weg von arrivierten Denkmustern einer politischen oder intellektuellen Elite, sodass dem Dreckigen, Anstössigen plötzlich eine avantgardistische Masse eigen wird, ein dem Lumpenproletariat gehuldigter Platz. Platz, so richtig auf den Putz zu hauen – wir schreiben den Anfang der Siebziger in Frankreich. Und da lässt das Schicksal zwei Seelenverwandte ineinander fallen.

Disruption

Delphine Seyrig, die revoltierte Star-Schauspielerin und Carole Roussopoulos, Laienfilmerin aus der Schweiz, die nach einer unbegründeten Kündigung als Assistentin bei der Vogue in Paris mit 24 Jahren nichts mehr zu verlieren hat ausser Zeit. Angestiftet durch Schriftsteller Jean Genet, der ihr rät, die Abfindung des Modemagazins für den Kauf einer revolutionären Maschine einzusetzen, um damit den Versuch einer hierarchiefreien Existenz anzutreten, fasst sie sich ein Herz.

Der Kalte Krieg hält die Kugel unter seiner eisernen Kralle, der theoretische Grabenkampf der neuen Linken tobt und Carole greift furchtlos nach der Sony Portapak – der ersten einigermassen mobilen Kamera überhaupt – und funktioniert sie auf der Strasse augenblicklich zum Megafon der kleinen Leute um, indem sie sich schickt, deren Geschichten abzulichten. Im Schlepptau hat sie ihre Freundin Seyrig, die sich den machistischen Fesseln der Filmindustrie entledigen will  – die Reaktionen sollten nicht auf sich warten lassen.

Act of tenderness

Beispielhaft das Ereignis von 1975, als die Huren Lyons eine Kirche besetzen, um breitenwirksam von ihren Verhältnissen zu erzählen; vor den Toren die Polizei mit brüllenden Schäferhunden und dazwischen Delphine et Carole mit Röhrenbildschirmen und Lautsprechern, die Videoaufnahmen aus dem Inneren an die gaffende Menschenmenge zu übertragen. Die direkte Aktion wird landesweit von den schlagzeilenheischenden Nachrichtensendern übertragen, ein voller Erfolg.

Auch schreien Delphine und Caro selber mit, wo es zu schreien gilt: Abtreibungsrecht, frei zugängliche Verhütungsmittel, Sterbehilfe – das humanistische Einmaleins. Sie setzen sich den Gegner*innen von oben aus, in öffentlichen Debatten, reisen und vernetzen sich im Ausland, nützen die Schauspielkontakte von Seyrig, treffen Grössen wie Jane Fonda in den Staaten und verweisen auf Zusammenhänge, Anknüpfungspunkte; sprechen vom Körper, von der Liebe. Verfassen im Kollektiv potente Manifeste, die siechen Kleinbürgerstrukturen zu torpedieren und dessen marodierenden Denkmalschützern mit gespreizten Beinen an die Waden zu pissen – zimperlich sind sie nicht, dafür lachen sie nicht zuletzt. Sie haben Spass, man stelle sich das vor. Sind zärtlich in ihren Begegnungen und reden ganz offen und ganz viel von Frau zu Frau und zu anderen Frauen und mit anderen Frauen.

Knock out

Und wenn sie dann Männer reden lassen – Schauspieler, Fernsehköche, Politiker – von ihren asphaltierten Ideen der Wesenhaftigkeiten, die Jahrhunderte keinem Anpassungsdruck ausgesetzt waren, oder ihren verschwärmten Projektionen der Frau als erotisches Mysterium lauschen, dann unterlaufen sich deren Positionen wie von selbst, weil sie sich ausgestellt überschärfen und gar keinem Protest mehr bedürfen – die feine Klinge macht die saubersten Schnitte. Und das grobe Geschütz fahren sie auf, wenn es in alle Richtungen spritzen soll:

«Ein Kind grosszuziehen ist traumatisierender, als eines abzutreiben.»

Das sagt Delphine an einer Stelle und will damit totale Zuspitzung, um individualistische Befindlichkeiten scheren sich die beiden nicht und sind doch von einer dermassen erlösenden Freude beseelt, dass ich schon ob dem Zusehen den eigenen machtüberladenen Schwengel vergesse und trotzdem Lust behalte. Er ist doch höchstens Spielzeug.

Credits

Das bare Verlangen nach einem befreiten Leben ist das – le plaisir de la vie – und dabei Schuld auszumachen maximal ein rhetorisches Instrument der Schwesterlichkeit. Dieser Funkenschlag scheint der entscheidende hier und bringt Licht auf dieses Zweigespann, dass natürlich eigentlich ein Tryptichon ist. Denn die volle Kraft dieser emanzipatorischen Utopie entwickelt sich erst durch die raffinierte Montage der historischen Aufnahmen durch Regisseurin Callisto McNultys. Sie, die selber Carole Roussopoulos Enkelin ist und bei ihrer Grossmutter im Wallis jeweils die Schulferien verbrachte, eine sehr nahe Beziehung zu ihr pflegte – gut fünfzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen. Es ist ihr Handwerk, das die Bezüge zum Jetzt schafft, unsere Hoffnungen und Wünsche einfädelt, nach dieser intuitiven Art sowohl künstlerischer als auch politischer Ermächtigung.

Callisto McNulty ist neunzehn Jahre alt, als ihre Grossmutter 2009 stirbt. Daraufhin beginnt sie in ihren Archiven zu wühlen und stösst auf eine Filmskizze. Es ist ein angefangenes Portrait zur Schauspielerin Delphine Seyrig. Callisto ist gerührt, begeistert von diesen Bildern, Zeugen einer Freundschaft und Bewegung. Sie will die Skizze fertigzeichnen, die Geschichte verdoppeln quasi, eine Spirale fräsen, die Zusammenhang gewährleistet. Sodass nicht bloss ein Zeitdokument entsteht, sondern ein Manifest auch für die Zukunft.

Delphine et Carole, insoumuses war dieses Jahr für den «Prix du public» der Solothurner Filmtage nominiert.