Sitzend, durch den Wolf gedreht, von hundert Stunden reden, lesen und Durst. Ruhen können wir dann in Frieden. Ich sitze auf einem fliegenden Teppich, unter Sonnensegel, neben armschönen Menschen und Tätowierungen, nackten Füssen, offenen Herzen. Auf einem silbernen Tablett werden Apfelschnitze serviert und von Bananen, Nüsslein, Rosinen. Weisse Orangenhaut schmust mit definierten braunen Muskeln, graue Haare neben grünen Augen, violette Fingernägel, Gesichter unter Glitzer.
Auf der Bühne spielen zwei kolumbianische Brüder traditionelle Cumbias, zweier Klampfen behändigt und mit etwas Perkussion. Manu Chao gesinnt sich dazwischen, Me gustas tu, Leute singen und klatschen, Theaterdampfschwaden werden herumgeblasen, aufgehellt vom Funkeln einer Spiegelkugel, die die letzten Sonnenstrahlen abfängt. Es ist der dritte Tag am Gugus Gurten 2019 und der Kitsch steht an diesem Abend allen.
Why so? Meister Duden zur Definition: aus einem bestimmten Kunstverständnis heraus als geschmacklos [und sentimental] empfundenes Produkt der darstellenden Kunst, der Musik oder Literatur; geschmacklos gestalteter, aufgemachter Gebrauchsgegenstand – Kitsch.
Ni Dieu ni maître, aber mein Schmachten auf dem Teppich macht mich verdächtig – Schwärmerei ist die Selbstüberlistung der Entrückten, Melancholie der Bewältigungsmechanismus des Schöngeists.
Ich bringe den Läufer auf B5 in Position und stelle auf Schach: Lasst uns dem Barock in uns Tür und Tor öffnen, auf dass die Ornamente dem Verstand die Luft abdrücken, nur um ihn in der nächsten Minute Mund-zu-Mund zu beatmen, die Verzierung als notwendige Bedingung für den klaren Strich, die saubere Linie, den roten Faden – der Urwald als Vorhof des englischen Rasens.
Der König schleicht sich von E8 auf F8: Verkläre nicht, was dich in zugänglichen Momenten übermannt. Das Überfrachtete bleibt Ausdruck von fehlendem Sensorium. Schlager klingelt, weil er noch der hinterletzten von Dumpfheit ausgeschäumten Seelen ein Echo abzuringen vermag. Rote Lippen muss man küssen. Orientalische Kissen, Patchwork-Pipapo und daneben dies-das-Habermas: nichts als Folklore. Ihr kotzt sinnschwanger Ayahuasca, ich kotze vor Trauer.
Meinen Springer von F4 auf G6: Verdiene dir das Bankett, klettere nach den überreifen Früchten der Baumkrone, huldige dem Pathos nach der Physikstunde. Entledige dich der Rüstung und riskiere Zugänglichkeit, Hemmungen auf die Schlachtbank, Pizzabacken kann man auch nur in einer Schürze – Futura Fantastica in der Heiteren Fahne – auf dass die alte Ordnung in sich zusammenstürze.
Und plötzlich steht er allen, der Kitsch, angeeignet kann sich Wertung verkehren – und Geschmack kann sich selber sowieso nicht schmecken. Übertrieben belassen legitimiert er sich hier als Schmuck eines Prozesses in Richtung Hochnebelfeld, Zweifel, offenen Enden und unbedingt zum Preis von alten Sicherheiten. Kondensierte Schönheit, karikierte Gefühle des Rausches – das Übermass helfe den holperigen Weg des Vorwärts zu puffern. Und wer sich nicht bewegen mag, den Zwangsjacken.
Das Billige könnt ihr behalten, den Rest wollen wir behaupten – Schachmatt.