Was ist diese Stadt für ein seltsamer Ort. Der Empfang in Biel macht sehnsüchtig. Die geöffneten Arme der Bahnhofstrasse sind nach der Welt gestreckt, in zeitloser Eleganz gezeichnet als symmetrisches Tor. Neues Bauen, alte Träume, ewige Verheissung. Das macht uns Berner schwach und pathetisch. Wir haben den Bahnhof ja an die Altstadt geklebt und uns damit die Moderne verschenkt, das leichtfüssig Mondäne. Also gehe ich desto lieber zu Fuss durch die paar hundert Meter Anleihen von Grossstadt, am Volkshaus vorbei und am Café Odéon, wo immer alles gut ist, und weiter vorbei an zweidrei Sofortgeld-Geschäften. An der Place Centrale steige ich in einen Trolleybus, der mich in die Champagne bringt. Bei der Uhrenfabrik Omega steige ich wieder aus. Hinter mir liegt ein seltsamer Wulst aus Holz und Plastik, den der Architekt Shigeru Ban gezeichnet hat, eine Kathedrale für die Billiguhrenindustrie. Vor mir liegt das alte Stadion in Zwischennutzung.
Auf der Gurzelen ist Sommerfest. Ici c’est Bienne, es sind alle da, die Verrückten dieser Stadt und die Verlorenen. Auf dem Rasen steht ein grosses Zelt, «Freaks Show» steht darauf in der Typografie eines italienischen Achtzigerjahre-Horrorfilms. Darin treiben die allerhaarigsten Bieler*innen ihr lustvolles Unwesen und frönen ihren Fetischen: Distortion-Orgie, Vagabunden-Chic und Trash-Mantra – die berauschende Romantik des Aussenseitertums auf Schweissgeruch.
Über eine Wasserrutschbahn purzeln Kinder von der Tribüne auf den Rasen. Der Hamburgerimbiss verkauft ausschliesslich Rindfleisch-Bulletten und Bratwürste. Dem Frittenstand lupfts alle fünf Minuten die Sicherung. Am östlichen Ende des Fussballfelds wird Rasentennis gespielt und geflucht bei knappen Punkten. Neben der grossen Tribüne dümpelt ein House-Floor vor sich hin, in stoischer Umarmung von 125 Beats die Minute. Die Jugend zückt dazu Red Bull-Dosen aus ihren hochgeschnürten Rucksäcken und tanzt ein bisschen im Schatten eines weissen Pavillonzelts. Nicht weit hat sich ein dicker Mann in einem Postauto eingenistet und verkauft Zigaretten und kratzt sich an der Wampe.
Die Nacht bricht herein. Ein silbergrauer Zauberer gibt mir LSD, wie viel es ist, weiss er nicht so recht. «C’est la magique» flüstert er nur. Die Kinder vom Nachmittag sind alt geworden und besoffen, sie fallen immer noch die Wasserrutschbahn runter, immer schneller, manchmal zu siebt und manchmal im Stehen. Einen hauts auf den Kopf und die Leute, die sich jetzt um die Rutsche versammelt haben, sie johlen, wie man johlt auf einer Tribüne, entblösste Männer allenthalben und entblösste Männlichkeit, dumm und laut und lebensfroh. Obwohl auch ein paar Frauen mitrutschen, dominiert eine jurassisch-bäuerliche Männlichkeit die nächtlichen Stunden im alten Fussballstadion. Das tierische Treiben entzündet auch mich, ich schwebe hoch und gleite runter. Und ich schwebe wieder hoch und gleite wieder runter und fliege kurz ein bisschen, abgeworfen von der kleinen Schanze, die in der Mitte der Strecke eingebaut ist, und schwebe hoch und gleite runter und fliege ein bisschen mehr, schwebe hoch und gleite runter und fliege ein bisschen weiter, schwebe hoch und gleite und fliege schliesslich fort.
Über die Dächer der Champagne dem Wald entgegen. Die seltsame Holzschlange fliegt fauchend an mir vorbei. Ihre Plastikhaut ist ledrig geworden und ihre Gurgel zittert jetzt mit jedem Laut, den das schreckliche Tier in die Nacht ablässt. Darauf reitet Nicolas G. Hayek, raucht eine Zigarre und hält das Viech in seinen Zügeln.
«Kann ich Sie was fragen, Nicolas G.?»
«Ja», sagt er und bläst zwei Ringe.
«Hören Sie, was ist diese Stadt für ein seltsamer Ort? Ich bin aus Bern und wundere mich. Sie müssen es wohl wissen, als König von Biel.»
«König! Dieses Völklein lässt sich nicht regieren. Ich habe die Stadt nie wirklich verstanden. Ein Haufen Anarchisten, hervorgekrochen aus dem Jura, der sich nicht entscheiden kann, in welcher Sprache er verkehren will. Dieses scheussliche Gemisch aus Schweizerdeutsch und Französisch.»
«Das ist doch hübsch und weltoffen, überhaupt sagen die Bieler von sich doch gerne, dass sie in der kleinsten Weltstadt leben.»
«Weltstadt? Ich war in Paris, in Neuyork und in Beirut. Ich habe die kosmopolitischen Zentren gesehen, habe an der Universität studiert. Biel? Genügsamkeit. Dilettantismus. Primitivismus. Und zwar konsequent. Die Leute hier begnügen sich mit ihrer eigenen kleinen Welt. Alles Bastler und Tagediebe! Ein weltläufiges Bahnhofsquartierchen aus den Dreissigerjahren reicht, damit sind sie zufrieden. Kein Wettbewerb, kein Ehrgeiz! Aber wissen Sie, was noch provinzieller ist als diese Genügsamkeit? Das Hinterherlaufen! Die Berner rennen den Zürchern hinterher und die Zürcher den Berlinern … Das ist es vielleicht, was Sie meinen, das ist es, was Biel mit einer echten Metropole gemeinsam hat: die Konkurrenzlosigkeit. Und die Entspanntheit, die sie daraus schöpfen. Die Bieler reden sich einfach ein, dass sie in der weiten Welt zuhause seien. Und das beruhigt sie! Ihr wehleidigen Berner hingegen bespiegelt eure Stadt ein launiges Leben lang in einer geradezu masochistischen Larmoyanz und schnürt euch die Aareschlaufe zum Henkerstrick, Herrgott! Und ihr gefällt euch noch darin. Aber wehe, jemand sagt euch das!»
«Aber Bern hat immerhin die Reitschule und die Aare und den Fussball und …»
«Sehen Sie, schon wieder diese Verteidigungshaltung! Sie langweilen mich. Und überdies muss ich weiter, die Zeit steht schliesslich niemals still, verstehen Sie. Hüa, Schlange, trag mich fort!»
Nicolas George Hayek selig reitet in die Nacht hinaus. Ein seltsamer Mann auf einer seltsamen Schlange, hoch oben über dieser seltsamen kleinen Stadt. Er hat wohl recht.