Wie ich einmal an den Oppenheim-Brunnen urinierte

Zehn Jahre ist das her und neunzig Franken sind viel für einen Sechzehnjährigen. Doch die wahre Busse musste ich anders tun. Und das Leben hält manchmal Chancen bereit.

Es ist nämlich schon so: Ich habe mich betrunken, meinen Schwanz hervorgeholt und ein Kunstwerk bepisst. Das Kunstwerk einer Frau, die sich im surrealistischen Paris der Dreissigerjahre in einer von seltsamen Männerträumen vernebelten Welt behauptete. Sich behauptete mit einer Selbstverständlichkeit, die Meret Oppenheim zu einem Vorbild machte für viele Künstlerinnen neben ihr und nach ihr. An dieses Kunstwerk habe ich uriniert. Vielleicht bin ich damals zum Mann geworden, zum normativen, der, sobald die Blase drückt, seinen Pimmel hervorkramt und lospisst – weil er kann. Vielleicht war es das Ende meiner Kindheit.

Die Betonsäule auf dem Waisenhausplatz erfreute sich bei ihrer Einweihung 1983 nicht sehr grosser Beliebtheit. Zumindest solche Leute, die Leserbriefe schreiben, schrieben damals Leserbriefe, unerfreute und ungeduldige. Doch der Trick war ja ein bisschen das Warten. Und schon die Schülerinnen der Neuen Mädchenschule, deren Hauptgebäude den Brunnen noch heute benachbart und die 1987 als Neue Mittelschule auch Buben auszubilden begann, fanden in den Wintern der mittleren Achtzigerjahre nicht mehr die karge Betonsäule vor, sondern einen grossen, von der Bise geformten Kronleuchter aus Eiszapfen. Die Mädchen rannten in die Pause und konnten auf dem Eis von Merets Geistesblitz ziberlen, das den Brunnen nun umgab.

Dann kamen Wulst und Wucher, sie formten den Brunnen, der heute aussieht wie ein tausendjähriger Baum mit Betonkrone. In den zehn Jahren seit dem Ende meiner Kindheit wäre der Oppenheim-Brunnen einmal fast eingestürzt. Jedenfalls wurde diskutiert, was mit den Tuff-Ablagerungen zu tun sei, die an der Statik nagten. Und es wurde diskutiert, ob nicht alles einfach so zu belassen und sich selbst zu überlassen sei, nach dem Willen der Künstlerin, koste es, was es wolle und führe es halt zum Umfallen des Brunnens. Und wie beim Krebs musste man den bösartigen Tuffstein vom gutartigen unterscheiden lernen und nahm den schädlichen schliesslich ab. Ernsthaft einen Einsturz riskieren wollte natürlich niemand bei all den Kindern, den Mädchen und auch Buben.

Die ehemalige Neue Mädchenschule ist nur die eine Nachbarin des Brunnens. Die andere ist die Polizei im alten Waisenhaus. Das vergass ich damals vielleicht, als es mich dünkte – oder ich fand es desto besser, jetzt, hier, genau: gegen das System anzupinkeln im Rausch des letzten Moments meiner Kindheit. Und noch als sich die Wasser mischten – das vom Brunnen, das von mir – fuhren die braven Gesetzeshüter heran und gaben mir einen Zettel mit nach Hause.

Ein Denkzettel, meinte meine Mutter, die die neunzig Franken bezahlte, weil ich das Geld nicht hätte aufbringen können. Ein Denkzettel. Doch das stimmte nicht. Den liess ich mir nicht geben von der Polizei, die mich zwar büsste, das Ausmass der Tat aber ganz und gar verkannte. Die hätte mir die Busse nämlich auch gegeben, wenn ich an irgendeinen anderen Brunnen gepinkelt hätte oder einen Baum oder ans Schulgebäude nebenan, «öffentliches Urinieren» halt und ganz prosaisch. Und von Kunst hat niemand geredet von denen und auch sonst von nichts, was mich zum Denken angeregt hätte.

Es ist Frau Siegenthaler zu verdanken, dass die Affäre dann doch noch einen emanzipatorischen Wert hatte. Sie war meine Geschichtslehrerin und eine gutmütige, noch im fortgeschrittenen Arbeitsalter sehr erfrischende Person und darauf bedacht, der Schweizer Frauengeschichte ein ganzes Semester zu reservieren. Jedes aus der Klasse sollte sich eine herausragende weibliche Persönlichkeit vornehmen und ihr einen Vortrag widmen. Ich stand vor die Klasse und erzählte recht detailliert von meiner Pinkelgeschichte und dass es mir irgendwie unrecht und ich hiermit bereit sei, endlich Busse zu tun. Das geschehe mir eben recht, bellte Frau Siegenthaler lustig dazwischen. Und ich begann, von der Oppenheim zu erzählen und davon, wie sie mit dieser wunderbaren ikonischen Selbstverständlichkeit zum Vorbild wurde für so viele Künstlerinnen neben ihr und nach ihr.

Meret liess mich, halb Bub, halb Mann, auf dem Eis ihres Geistesblitzes ziberlen, ausrutschen, stürzen. Sie bot mir Hand beim Aufstehen. Einmal soll sie gesagt haben: «Der Geist ist androgyn und auch die Kunst.»