Win For Life

Über die Vorfälle im Jura hinaus reden wir von Offenheit an diesem späten Nachmittag in der Schreibstube hinter dem Henkerbrünnli, Neubrückstrasse 17 – die Köpfe wie Kissen in zu kleinen Bezügen unter der Augustsonne. Der Weltenlauf kennt kein Hitzefrei. Und Coco lauert, ein anderes Virus tobt, der Krieg, auch in Europa, weltweiter Anstieg von Hunger, Dürren, Brände. In den USA zerlegt das reaktionär enthemmte Supreme Court analog zum Anstieg der globalen Temperatur die demokratischen Grundfesten und in unserem sommermüden Blätterwald entwickelt sich obendrauf eine Empörungsbewirtschaftung wegen verwickelter Tatsachen. Dreadlocks bei Weissen – kulturelle Aneignung – es ist nicht so einfach. Man schreibt das: es ist nicht so einfach. Und dann schämt man sich, trotz dem Versuch sich konstruktiv zu beteiligen – oder gerade darum. Wie ich sie hasste in der Schule: die Streber, mit der Zunge auf dem Lehrerpult. Eifern ist unbarmherzig.

«Wünsch dir doch lieber was!» sagt der Schwab und rupft mich aus dem Echo meiner Verelendungsschleife, die doch gerade dabei war, sich mir zum Kokon zu spinnen, aus dem ich im späteren Herbst dann als abgelöschter Bettelmönch zu schlüpfen beabsichtigt hätte, um nur noch bequem räsonieren zu dürfen. «Also: ich wünsch mir etwas», sage ich. «Zur Übertönung aller Debatten und Klugscheissereien ein alternative Gratisserie Win for Life-Lose ohne Nieten! Und nicht 4000 Franken im Monat als Gewinn.» – «ja was dann?» – «Folgendes: eine Modulation der jeweils individuellen Matrix der Losbezüger:innen zur Garantie offener Scheuklappen. Am ersten Tag fiele die Angst, von der eigenen Meinung abzurücken, einfach runter wie ein satter Mostapfel. Am zweiten Tag wäre der Boden übersäht von faulen Früchten und jeder Stammtisch, jeder Think Tank, jeder Lesekreis, jeder Chat, jede Blase platzte unter dem Duft von Seife und würde zum Schmaus für einen Wespenschwarm an Fremdmeinungen. Ohne, dass dabei aber die Angst vor Stichen, vor Verletzungen des Selbstwerts oder Egos überhandnehmen würde – das endet doch kaum nie anders als in autoritärem Gefuchtel und Geschrei.» «Und am dritten Tag?» «Am dritten Tag wäre ein anständiger Kater angebracht – von all dem Likör auswärtiger Gärten.» – «Ah geil: ohne Übelkeit, mehr so ein Samtpfotenkater.» – «Genau so einer, schön halbdurchlässig im Kopf und leicht überempfindlich auf der Haut. Dass sich die Dusche anfühlt wie die ständige Befriedigung, die sonst nur sekundenbruchteillang durch fremdzugefügtes Rückenkratzen an einer unerreichbaren Stelle ausgelöst werden kann. Und dass man in der Küche heimlich denkt, mit der pfeifenden Kaffeekanne Bach im Kanon trillern zu können. Dann, kurz vor dem sonstigen Einbruch der Einsamkeitsgefühle und Selbstzweifel, würde die perfekte Selection an Freund:innen und Verwandten angeschwebt kommen und sich in der genau richtigen Position, auch psychologisch, auf wunderbar stabilen Horgenglarus-Stühlen friedlich ausruhen. Man würde über alles offen reden können und niemand fiele in den sofortigen Fürsorgeschwall oder zöge sich zurück ins Schneckenhaus; es regierte ein kollektives Urvertrauen den Raum. Sachliches würde nicht als versteckter Appell verstanden, Appelle nicht als Drohung und Drohungen wären höchstens rhetorische Perlen an ironisch-demütiger Selbstoffenbarung, bei der alle augenblicklich mitschwingen würden.» – «Man würde sich schon am dritten Tag verstanden fühlen? Erstmal halblang. Das klingt für mich einigermassen nach Fundamentalismus: die Aussicht auf das sehr lange Schweigen. Gerade du kamst doch immer mit dem daher – «La violence est ce qui ne parle pas.» – wenn das Reden abbricht.» – «Im Gegenteil: Es wäre das goldene Schweigen, niemals das kalte Gift der passiven Aggressivität, sondern warm wattiges, absolut konsensuales Nicht-mehr-reden-müssen: Win for Life.»

Aber der Schwab will nichts gewinnen: «Ich bleibe dabei. Das ist ein Kurzschluss. Offenheit wäre dann überflüssig, viel mehr wäre es die schlimmste Art von Vernagelung, weil sie mit gutem Gewissen bewaffnet wäre.» Aber mittlerweile ist es 36 Grad im Büro an der Neubrückstrasse 17, die Füsse brennen, buckelig von Mückenstichen wie ofenheisse Kirschsteinkissen. Also raus, wir setzen uns auf den Rand des Henkerbrunnens und schwingen die Schinken ins Wasser. Passanten lächeln uns an. Es ist zwar Ferienzeit, der Feierabendverkehr saisongerecht ausgedünnt und trotzdem schneit da noch allerhand vorbei: Boomers auf Stromern, stiere Köpfe, Budenautos, Vespas, windige Mienen, Student:innen im Bus und Parvenus auf Klappergäulen, Hülsenbierbewanderte auf dem Weg in den Sleeper. Alle lächeln uns zu, nur weil wir da so sitzen. Wir fassen uns an den Kopf und tauchen ab im Trog.

Den eingangs erwähnten Text zum Diskurs der Kulturellen Aneignung gibts hier. Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Septemberausgabe des KSB Kulturmagazins.