Zeitgenössisches und dessen Hülle – ein Dialog

Gestern, grosses Stelldichein im Progr-Ostflügel, Vernissagen-Happening vom Lehrerzimmer, Gang runter und um die Ecke, bis zum Reflector (et retour, nomen est omen). Urs, mittig aus der Galerie 3000:

Myriam Gallo und Klaus Walter stellen zusammen ihre Arbeiten aus zum grössten individuellen Organ – kleinstes gemeinsames Vielfaches? – schwarz, weiss, gelb, rot, braun – allein ihre Farbe determiniert, unser Habitus bezüglich ihrer dekliniert uns als Wesen der Scham, der Schuld, der Macht, der Angst – ergo Homo sapiens sapiens. Die beiden waren in Kairo und zeigen uns jetzt Pelle, spielen mit Gedanken zu ihrer Sichtbarkeit und implementieren auf Materielles.

Fischer derweil drüben in der Reflector Gallery:

Sapiens, gutes Stichwort. Bewusst-Sein, Reflektiertsein, Referenzkompetenz – mitunter wünschten Künstler ja, sich davon freimachen zu können. Suchen und finden Wege, beim Schaffen ihrer Werke, die Entscheidungen den Werkzeugen zu überlassen. Beatrix Sitter-Liver zeichnet so auch gern sehr grossformatig mit Pflanzen als Pinseln. «Ich wähle zum Beispiel eine Ähre, einen Schachtelhalm oder eine Grasrispe aus, immer nur eine Pflanze, tauche sie direkt in die wässerige Farbe und führe sie, in ständiger, wacher Beobachtung auf ihre Bewegungen reagierend, in konzentriertem Tanz über das weisse Blatt. So stellt sich die Pflanze selbst dar; ihre Spur oder Schrift oder – wie mein Serientitel lautet – ihr «Idiom» wird zum Bildinhalt.» Sehr schön, mitunter nah am Idyll natürlich – Sehnsucht nach dem Ursprünglichen.

Was man wohl in Kairo an Ungefiltertem findet? Back to you Urs:

Es geht um Haut und wie viel davon zu sehen bleibt, hinter Schleiern, Militär und Strassenstaub. Darf ich mit gutem Gewissen blankziehen hier oder laufe ich in meiner Offenbarung Gefahr? Warum tragen die Fahrzeuge da handgenähte Pyjamas und was heisst das eigentlich für den Tschador? Heisst postmodern – ist das noch zeitgenössisch? – nicht auch irgendwie vielfältig und wäre darum gerade Verhüllung die notwendige Bedingung für Durchsicht? Ein Bruch, ein Riss im Kleid beutet nicht mehr bloss das Scheitern einer Idee, eines Dogmas, sondern Inhalt oder im besten Fall einen spielerischen Umgang mit dem was das bedeuten könnte – Myriam hat in Kairo den Leuten ihre selbstgemachten Autoplachen abgeknöpft und sie in der Galerie quasi sakral und in einer Aufbereitung einem Modeladen gleich aufgebahrt. Walter hat mit Acryl auf Lichtkästen gemalt und Folie geklebt, was wir habituell vor dem Schlafen machen oder dem miteinander Schlafen – ausziehen. Ich steh gebannt in diesem viel zu engen Raum des Progr, für soviel Bedachtes und freue mich an der Distanz und Sorgfalt, mit welcher hier gearbeitet wurde, aufklärerisch und mit Passmass zwischen Konzept und Phänomenologie.

Sorgfalt, das ist natürlich auch ein zentraler Punkt bei Beatrix Sitter-Liver. Bedacht? Der Begriff ist schon schwieriger, zumindest wenn man ihn buchstäblich nimmt. Wobei, seltsame Ironie: Die Pflanzen zeichnen Strukturen, die oft verblüffend an Netzwerke von Neuronen erinnern. Unbewusste Intelligenzen?

Verstanden, die Ratio ins Leere laufen lassen. Selbstüberlistung an der Staffelei – oder dem Bügeleisen, schliesslich wurden diese Stoffbahnen, gewaschen, geglättet, gefaltet – der ursprüngliche Nutzwert wurde ihnen gewissermassen ausgedampft. Zeichnen sich denn die Künstler*innen, wenn sie so passieren lassen, nicht gleich selbst als Blättchen im Wind und kann das Befreiung bedeuten? Fischer, hast du noch Tabak?

Hab noch was, ja. Brosamen. Da kommen wir ja directement zu den Surrealisten und zur Ecriture Automatique, die ohne weiteres auch Peinture/Sculpture Automatique heissen könnte. Breton dazu im ersten surrealistischen Manifest:

«Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist so weit wie möglich auf sich selbst konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, daß die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. (…) Fahren Sie so lange fort, wie Sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit des Raunens.»

Dazwischen übrigens immer noch Nina Rieben, in der Stadtgalerie. Ob da alles stimmt mit dem Gefühl?