Ganz so radikal wie die fiktive Scarlet Plague (aus unserem ersten Disaster Book) war der Schwarze Tod nicht, er verfuhr ungefähr fifty-fifty, aber dennoch: Corona ist geradezu schlicht und konziliant im Vergleich zu früheren Pandemien. Will man sich einen Begriff machen, wie eine Gesellschaft getroffen wird, wenn der Tod plötzlich überall lauert – und wie wenig Solidarität und Gemeinsinn dann übrig bleibt -, dann liest man am besten Daniel Defoes fiktives Tagebuch aus dem Jahr 1665, als London von der Pest heimgesucht wurde (erschienen 1722).
Defoe – Wiki zufolge nicht nur Schriftsteller, sondern auch «trader, journalist, pamphleteer and spy» – war selber zwar erst fünf Jahre alt, als die Pest in seiner Heimatstadt wütete, aber er konnte später wohl auf Aufzeichnungen eines Onkels zurückgreifen. Jedenfalls spricht aus dem allem eine Unmittelbarkeit, eine buchstäbliche Betroffenheit, die man heute vielleicht Agency nennen würde und die einen immer wieder das Blut gefrieren lässt, ganz ohne Hollywood-Kniffe. Apropos: 1999 kam ein sehr düsterer und schöner Animationsfilm heraus, der auf Defoes Buch basiert und der es fast bis zu einem Oscar gebracht hätte.
Defoe war auch einer der frühesten Confinement-Kritiker (und ein Vertreter datenbasierter Empirie). Vielleicht hat er das Journal auch explizit als Anklage gemeint – schliesslich war er ja pamphleteer -, denn er wird nicht müde, die fehlenden Belege zu beklagen, dass das Einschliessen von Menschen mit Anzeichen der Krankheit und aller weiterer Hausinsassen die beabsichtigte Wirkung zeigt. Umso eindringlicher schildert er die Brutalität der Massnahme, die sehr oft einem Todesurteil gleichkam, und das Schreien und Toben und Verzweifeln der Betroffenen aus den Fenstern heraus.
Das Ganze ist nicht nur interessant, weil man beim Lesen immer wieder wie in einem Zerrspiegel unsere jetzige Situation erkennt, das Buch ist auch ein literaturhistorisches Unikum. Ein Roman ist das nicht, auch kein Sachbuch oder eine Essaysammlung. Defoe hat ein wenig vorweggenommen, was das Dokutheater in den letzten Jahren behauptet hat: Dass Kunst den besseren, nicht gestalteten, sondern unmittebaren Zugang zur Wirklichkeit bietet. Und wer so richtig ins Schreiben um 1700 eintauchen will, liest parallel auch noch die zwar nicht fiktiven, aber natürlich auch sehr gestalteten Tagebücher von Samuel Pepys, der auf überaus nonchalante und privilegierte Weise durch Londons Strassen und das Pestjahr zirkelt. Er ist zwar auch hin und wieder erschüttert, wenn er gewissermassen aus der Höhe seines Amtes und seiner guten gesellschaftlichen Stellung in die Niederungen Londons blickt («But, Lord! how sad a sight it is to see the streets empty of people, and very few upon the ‹Change. Jealous of every door that one sees shut up, lest it should be the plague; and about us two shops in three, if not more, generally shut up»), aber zum Jahresende 1665 kann er trotzdem fröhlich bilanzieren:
I have never lived so merrily (besides that I never got so much) as I have done this plague time.
So viel lässt sich allerdings auch von Corona lernen: Seuchen sind nicht die grossen Gleichmacher, als die wir sie gern sehen. Sie treffen nicht alle gleich, sie überhöhen im Gegenteil die sozialen Unterschiede. Sie sind wunderbare Kontrastmittel, um Missstände und Ungerechtigkeiten besser zu sehen. Das ist dann auch eine Chance – die man aber erst ergreifen kann, wenn es wieder aufwärts geht. Und dann denken die, die gerade noch ganz erschrocken waren, meist: Wir sind ja nochmal gut davongekommen.