Ein eher zufälliges Telefonat – in Erwartung des Anrufs vom BAG, mich unter Quarantäne zu stellen, weil mein Mitbewohner gerade sein positives Testresultat erhalten hat – ich nehme also schnell entgegen, auf dass am anderen Ende, unerwartet, eine bekannte Stimme tönt. Es ist Mauri aus Napoli. Maurizio Coppola, Soziologe, Aktivist, irgendwo im Aargau aufgewachsen, hat dann in Bern studiert, lebt und wirkt jetzt am Vesuv. Wir haben damals zusammen gearbeitet, haben Harassen in Kellern versenkt, als er noch nicht als Übersetzer, Journalist und Reiseführer sein Geld verdiente.
«Hast du die Presse zu den Geschehnissen in Napoli schon gesehen?», fragt mich Mauri. «Nein, habe ich nicht.», muss ich gestehen, aber der Tenor ist im Browser schnell ausgemacht. Quer vom Trash über den Boulevard bis hin zum bürgerlichen Medienwald: Watson, Blick, Tagi – überall läuft ein himmeltrauriges Video einer komplett überlaufenen Spitaletage hoch und runter. Aus dem Ospedale Antonio Cardarelli – ein Toter liegt im Badezimmer, Exkremente lagern in Tupperware auf belegten Betten, kauernde Menschen an Sauerstoffschläuchen – fuck.
Das Elend aus dem Süden als Klickbenzin, der wüste, gleichsam zündende Reflex auf Redaktionen, weil solche Darstellungen bei den Leser*innen ein Gefühl der Souveränität hervorrufen, mindestens unsere moralische Dominanz festigen. Wenn es denen da unten so schlecht geht, fühlen wir uns besser hier, meinetwegen fühlen wir uns schuldig. Was nicht minder hierarchisch ist, weil die Zuschreibung der Opferrolle eine urteilende Mechanik auseinandersetzt, wer denn jetzt eine arme Sau ist, wechselweise das privilegierte Schwein, das seine Freiheiten reflektieren sollte. So beelendend relativierend und banal diese Einsicht auch scheinen mag, ob oldschool eurozentristisch hegemonial oder postkolonial identitätspolitisch superkorrekt – es bleibt der gleiche Gestus der Überlegenheit – fuck.
Als ob wir nicht alle fliegen würden, wenn wir Flügel hätten.
Für Zusammenhang muss man tiefer blicken. Mauri hat in letzter Zeit einige Artikel für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und das Revolt Magazin geschrieben zur momentanen Situation in Kampanien, der Westküstenregion Italiens, dessen Hauptstadt Neapel ist. Er macht mir einen Abriss: «Hier kollabiert gerade die medizinische Grundversorgung. Die Regierung hätte acht Monate Zeit gehabt für Restrukturierungen im Gesundheitssystem, seit der ersten Welle, dafür mehr Infrastruktur bereitzustellen, mehr Pflegepersonal zu organisieren. Die von Napoli ausgehenden sozialen Proteste haben sich unterdessen auf das ganze Land ausgebreitet. Hier will niemand einen zweiten Lockdown.
Die Menschen fühlen sich doppelt geprellt. Im Frühling, als vor allem der Norden des Landes betroffen war, wurde das ganze Land autoritär abgeriegelt. Und jetzt, da Kampanien zu den am stärksten betroffenen Regionen gehört, wird von der nationalen Regierung nur ungenügende finanzielle Unterstützung gewährt. Wir sprechen hier von einer Region, die mit rund 50% Jugendarbeitslosigkeit schon vor der Corona-Krise die höchste Quote in ganz Europa aufwies. Neuste Schätzungen gehen davon aus, dass rund 40% der fünf Millionen Einwohner*innen Kampaniens von Armut bedroht sind. Ferner bleibt der wichtigste wirtschaftliche Katalysator, der Tourismus, jetzt kalt. Die Bereitschaft für einen weiteren Lockdown fehlt. Man will keine weitere Austerität aus zentralstaatlichem, ergo gefühltem Fremdverschulden erdulden müssen – was wir hier erleben, ist eine kollektive soziale Depression. Die Politik und nationalen Medien sprechen von Corona-Skeptiker*innen, Faschist*innen und der organisierten Kriminalität, die die Proteste anheizten. Das greift zu kurz, die Zusammensetzung ist sehr vielfältig und komplex, variiert zusätzlich je nach Stadt. Verschiedene politische Organisationen, das Kleingewerbe, die Beizen und das Nachtleben mischen mit – die präsentesten Slogans auf den Transparenten, die kleinsten gemeinsamen Nenner, sie könnten grundsätzlicher nicht sein: ‹Wir wollen arbeiten› und ‹Freiheit›.»
Vor einem Jahr war ich bei Mauri zu Besuch und kann mich gut erinnern, wie wir im Quartiere di San Ferdinando zusammen Genovese spachtelten, nahe der Seepromenade an der Borgo Santa Lucia. Ragout an ausschliesslich Schweineschmalz und Zwiebeln, auf glatten Teigwaren – liscio – ein Gedicht. Ein von Söldnern verschlepptes Rezept, der Legende nach, wie die Matrosen die Syphilis verschleppt haben. Dazu wässerigen Rotwein und darüber streiten, wie ein neues Klassenbewusstsein zu erlangen sei oder eben nicht, ob all der spätmodernen Verschmierung. Und über dem Vulkan strahlte der Vollmond.
«Eine einheitliche Analyse der Proteste ist schwierig», sagt Mauri heute, «sicher geht es aber um soziale Belange, es geht um die Existenz.»
Das im kategorischen Unterschied zum Aluhut-Reformhaus-Amalgam, das auf unserem Breitegrad wandelt – und vor allem auf konfus antiautoritäre Stimmungsmache aus ist.
«Aber stell dir vor, alle möglichen Betreiber von Kleingewerbe hier, das Kleinbürgertum, das vom Tourismusboom der letzten Jahre massiv profitiert hat, die sehen sich jetzt auch der einzigen Möglichkeit beraubt, weiterzumauscheln. Weiterhin irreguläre Arbeiter*innen zu ausbeuterischen Konditionen zu beschäftigen beispielsweise. Und die Angestellten stützen ihre Unterdrücker häufig noch, in einer korporatistischen Überzeugung à la: Du gibst mir zu essen, ich verteidige dich. Im Verbund wollen die – anders als die linken politischen Organisationen – gar nicht so etwas wie ein Grundeinkommen. Viel lieber möchten die einfach weitergeschäften und von der Steuerlast enthoben werden, analog denen vom Unternehmungsverband Confindustria, also dem Grosskapital. Und diese Sicht auf die Dinge schliesst eine coronaskeptische Haltung nicht aus, was wiederum die optimale Petrischale für neofaschistisches Gewucher darstellt. Da schliesst sich alles kurz.»
«Gibt es denn auch Hoffnung für unsere Seite?», frage ich Mauri.
«Auf die kleinbürgerlichen Komponenten innerhalb der Proteste reagiert die Regierung mit Hilfsbatzen – nur schon zur gesamtgesellschaftlichen Konsenswahrung. Dann besteht natürlich, speziell bei den bürgerlichen Medien, das Interesse daran, ein möglichst schlechtes Licht auf die sozialen Proteste zu werfen. Gerade wenn linke Kräfte mitwirken und Gewalt an Infrastruktur verübt wird. So will man den popularen Klassen, den Arbeiter*innen, Angst einflössen und sie von Protesten fernhalten.
Diese soziale Depression prekarisiert vor allem das Zwischenmenschliche, macht fragil – das gestaltet die Organisation zusätzlich schwierig. Als linker Strohhalm muss man sich an die Verbindung zur Streikbewegung der Arbeiter*innen halten. Schon seit Monaten schwelen Proteste gegen Fabrikschliessungen, im Oktober gab es einen landesweiten Streik der Essensauslieferungsdienste, da ist der Unmut des Pflegepersonals, das teilweise die eigene Seife zur Arbeit mitbringen muss. Im Verbund liegt hier ein enormes Potential, für einen auch positiven Ausweg aus dieser Krise. Aber hey, ich muss dich lassen Lieber, in einer Stunde ist Versammlung angesagt, wir gehen auf die Strasse.»
«Ciao Mauri, war schön dich zu hören. Tragt euch Sorge.»
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