Zwischen Paris und Lausanne liegen zweidrei Solothurner Gassen. Ein Freitag im Film, dessen zweiter Teil.
Callisto McNulty steht noch auf der Bühne, als Rihs und ich den Konzertsaal verlassen müssen. Die Torschlusspanik peitscht uns unbedarfte Festivalanfänger durch das Städtchen, zweidrei hastig abgelaufene Gassen lang müssen wir uns ans Dämmerlicht gewöhnen. In der Brasserie Fédérale ist dann doch kurz Zeit. Das Personal in der Beiz tut zwar unfreundlich, ansonsten ist man weiterhin in der Deutschschweiz.
Es gibt wenig zu streiten nach diesem ersten Glückstreffer. Und es ist jetzt sehr schön, zu schweigen. Wir spielen auf Erkältung und halten uns an den Stangen und das Wetter ist genau so beschissen, wie man es sich von Paris erträumt, wo man immer fast überfahren wird und immer ist man zu spät.
Immer. Der Mann an der Kasse könnte jetzt seinen Frust ablassen an uns. Restlos voll sei der Saal, das sagt er uns und allen anderen, die mit ihren Billets fuchteln, QR-Codes wirbeln durch die Luft, aber irgendwann wird es auch den Beharrlichsten zu blöd und sie ziehen ab. Weil wir einfach stehen bleiben, dämmrig in der Wärme wie zwei gutgläubige Wachsfiguren, dürfen wir dann doch noch rein. Merci.
Auch in Patricia Moraz› Regiedebüt Les Indiens sont encore loin wird viel auf französisch geraucht. Ansonsten wenig Gemeinsames in der Disposition: Die kosmopolitische Aufbruchsstimmung im Dokumentarfilm nur eineinhalb Stunden zuvor, le vidéo, so kühl und kühn – this machine kills sexists – das selbstbestimmte Schloten, das stolze. Und nun: 35mm, Lausanne zwischen See und Wäldern, wo die Polizei das letzte Bier besiegelt, wo die Jugend Bauernbacken hat und Strickpullover trägt, verstohlen raucht in der Knelle in der Provinz, wo sich alles im Kreis zu drehen scheint. Es könnte auch um Bern gehen, Basel oder Winterthur. 1977 hat es diesen leisen Spielfilm an die Goldküste nach Cannes gespült – aber das ist eine andere Geschichte.
Jenny liegt tot im Schnee. Wir hören eine Bachsonate. Wir sehen dann die letzten Tage im Leben dieser zunächst schweigsamen, schliesslich stillen Gymnasiastin, die ihr Leben mit ein paar wenigen Menschen geteilt hat: Die beste Freundin Marie (gespielt von Christine Pascal) hat einen adoleszenten Lebenshunger und einen etwas älteren Freund. Der redet gerne vom Klassenkampf – sie wird das Kind abtreiben, ohne es ihm zu sagen. Sein Kumpel Mathieu hadert lieber. Jenny (Isabelle Huppert) lebt bei ihrer Grossmutter, das Leben muss der Familie ein Loch in den Stammbaum gehauen haben.
In geduldigen Einstellungen folgen wir Jenny durch die Tage, in der Schule, wo die Lust an der Literatur mit Tonio Kröger im Frontalunterricht fast erstickt und schliesslich vom desinteressierten Lehrmeister gänzlich vernichtet, in der Beiz, die Nachmittage totgeschlagen, wo ein machoider Marxismus wie kalter Rauch vor sich her stinkt. Am Sonntag könnte man sich zum Spazieren verabreden, zum Spazieren im Schnee. Aber schliesslich ist Jenny auch da allein, am Eingang zum Bois du Jorat und geht, anstatt zurück, gerade in den Wald hinab. Dieser Film braucht dafür keine Erklärung zu erfinden.
Im anschliessenden Gespräch sind Madelaine Fonjallaz und Paule Mure zum Plaudern nicht sehr aufgelegt. Sie sind ebenfalls Filmemacherinnen in diesem heute als «Cinéma Copines» bezeichneten Zusammenhang Westschweizer Filmpionierinnen, Vertraute der verstorbenen Patricia Moraz und Christine Pascal *. Wie das denn nun gewesen sei in Cannes, 1977, fragt die Moderatorin und Fonjallaz gibt rustikal zu notieren, dass man sich daran nicht mehr so recht erinnern könne. Man habe sich gefreut. Und dann war es auch egal. «Wer in welchem Hotelzimmer war da unten, das hat uns nicht interessiert.»
* In französischsprachigen Enzyklopädie-Einträgen werden verstorbene Personen sinnigerweise in der sprachlichen Gegenwart eingeleitet. Les indiens sont encore loin wartet derzeit auf finanzielle Mittel zur Restaurierung.