Future Islands #3: Nichts ist langweiliger als die Gegenwart

Ich vertreibe mir die Zeit mit Spaziergängen und manchmal, während ich spaziere, an der Aare entlang oder durch die leergefegte Innenstadt, schleichen sich dystopische oder utopische Bilder in meinen Kopf. Ich drifte ab in eine Zukunft, von der man wohl träumen kann, aber die man nie erreichen wird. Daran sind schon viele Utopien zerbrochen und ebenso viele Seefahrer: Der Horizont ist keiner mehr, wenn man ihn erreicht. Trotzdem denken wir zur Zukunft, schiffbrüchig, wo die Zeit so ungewiss ist, wie wir es noch nicht erlebt haben. Ist es doch höchste Eisenbahn, wenigstens zu stranden, wenn schon der Horizont die leeren Versprechen, die wir ihm aufgebürdet haben, nicht einzuhalten vermag.

Die Redaktion trifft sich auch in meiner Zukunft regelmässig, aber nicht mehr zu Sitzungen, sondern zu Spaziergängen. Sowieso trifft man sich oft zu Spaziergängen und dann spaziert man in kleineren Gruppen durch die Stadt, die Abstände hat man sich angewöhnt, man spricht deshalb etwas lauter. Die Smartphones lassen wir wenn möglich zuhause, auch das haben wir uns angewöhnt. Die Kaffees haben nur noch Dienstag und Mittwoch geöffnet, gearbeitet wird nur noch Donnerstag und Freitag. Das mit den Kaffees ist nicht so schlimm, weil wir seit der Einwanderungswelle aus dem krisengebeutelten Argentinien, das es damals während der Pandemie besonders hart getroffen hatte, sowieso nur noch Mate trinken und beim Spazieren immer Thermosflaschen heissen Wassers, grosse Packungen Tee und unsere Bombillas mitnehmen und dazu wird gekifft was das Zeug hält. Kiffen ist inzwischen schon lange legal, wenn nicht sogar erwünscht, um unnötiges Wirtschaftswachstum zu bremsen.

Der argentinische Einfluss war auch ausschlaggebend bei der Umgestaltung der Berner Innenstadt, dem Niederreissen historischer Gebäude und ganzer Häuserzeilen zugunsten der Symbolwirkung breiter Alleen, wie es schon lange vor der Pandemie ohne Zögern in Buenos Aires praktiziert wurde. Die Achse der Macht ist in der argentinischen Hauptstadt verbunden durch eine Horizontale und gesäumt von Bäumen: Plaza de Congreso, Plaza de Mayo, Präsidentenpalast und Calatravabrücke, die zum modernen Reichenviertel Puerto Madero führt. Buenos Aires hat vor langer Zeit sogar Tauben und Spatzen importiert. Wer eine urbane Metropole sein will, braucht Tauben und Spatzen.

Argentinien hatte diese Idee im 20. Jahrhundert bei Frankreich abgeschaut, wo im 19. Jahrhundert Napoleon III mithilfe des Städteplaners Haussmann Paris komplett auf den Kopf gestellt hatte. Städtebauliche Ansätze, die ähnlich auch Mussolini begeisterten, der aber im architektonisch kaum zu bändigenden Rom nur einen Bruchteil seiner Pläne umsetzen konnte. Die radikale Pariser Idee fand also fast 200 Jahre später über Buenos Aires den Weg nach Bern und so wurde auch die städtische Architektur unserer Innenstadt ausgedünnt. Die Tramlinien wurden unter die Erde verlegt, vom Inselspital bis zum Bärengraben zieht sich eine breite Schneise, gepflastert und von Bäumen gesäumt, autofrei natürlich. Wenigstens aus der argentinischen Taubenplage hat man gelernt und also wurden Tauben, Spatzen und Drohnen ausgerottet, stattdessen kreisen Milane über dem Bundeshaus. Die Milane haben die städtischen Vögel brutal vertrieben und aufgefressen. Und als alle weg waren, haben sie sich den Hauskatzen angenommen, wodurch sie zufälligerweise die Ausbreitung eines weiteren tödlichen Virus verhindert hatten, der von Hauskatzen übertragen wurde. Die Milane sind trotzdem mühsam, weil sie alles vollscheissen.

Die Häuserzeile zwischen Waaghaus- respektive Käfiggässchen und Bärenplatz ist Opfer des städtebauerischen Umbruchs geworden. Molino, Fielmann, Käfigturm und Entrecôte Fédéral wurden zugunsten der Achse der Demokratie dem Erdboden gleichgemacht: Der Präsidentenpalast im ehemaligen Polizeihauptsitz, das Bundeshaus und das moderne Reichenviertel Puerto Marzili. Die Reichen im Marzili unten werden massiv besteuert und sie geben gerne ab, denn Solidarität ist schliesslich unser grösstes Kapital, seit das Kapital nicht mehr unser grösstes Kapital ist. So wurde auch das Grundeinkommen für das unterste Drittel eingeführt. Nur Kunst- und Kulturschaffende bekommen nichts, denn für die Kunst braucht es Dringlichkeit und so ist das Ideal der Armut unter den Künstlern und Musikerinnen zum Höchsten evolviert, nicht zuletzt als Antihaltung zum allgemeinen Solidaritätsgedanken und einem antiquierten Stolz, den sonst irgendwie niemand so ganz verstehen mag. So arbeiten Kunstschaffende nicht nur Donnerstag und Freitag, sondern die ganze Zeit an ihrer Kunst und ausserdem Dienstag und Mittwoch in den Kaffees.

Übrigens ist jetzt durchgehend Frühling, das Klima hat sich endlich zugunsten der Menschen eingependelt: keine kalten Jahreszeiten, keine Depressionen, nur ein, zwei neuartige Allergien, aber dagegen gibt es inzwischen auch Medikamente, nachdem es immer mehr Hyperallergiker*innen dahingerafft hatte, die mit aufgeschwollenen Gesichtern und tränenden Augen kläglich erstickt waren. Alles, was wir brauchen, ist aus Plastik, nachhaltigem Plastik, solchem der sich gut anfühlt und nicht spröde wird, jedoch mit einem unkomplizierten Verfahren einfach so in Luft aufgelöst wird. Während wir so auf den Champs-Élysées zwischen Inselspital und Bärengraben spazieren und unsere Plastik-Bombillas mit heissem Wasser aus den Plastik-Thermosflaschen auffüllen und weiterreichen, sprechen wir Esperanto, die Sprache des Proletariats, während die Reichen unten im Marzili Mandarin sprechen.

Kurz nach der Kirchenfeldbrücke, das Marzili zu meiner Rechten auf der anderen Flussseite, reisst mich das Gespräch zweier Spaziergängerinnen aus meinen Träumereien. Es geht um Kurzarbeit, um Entlassungen und kontrollverfallene Arbeitgeber. Ach ja, wir sind ja immer noch in einer spätkapitalistischen Krise, ich nur am Tagträumen und die Utopie an sich nicht mehr als fantastisches, im besten Fall literarisches Gedankenspiel und im schlechtesten naiv und banal. Natürlich kann und soll man sich Zukunftsvisionen hingeben, gerade angesichts der Unsicherheit in Krisenzeiten. Natürlich kann man von der Zukunft träumen, aber man kann sie nicht wollen, ohne am Horizont zu zerbrechen, denn wenn sie da ist, zerfällt sie zur Gegenwart. Und nichts ist langweiliger als die Gegenwart.

Ich spaziere vom Marzili hoch, am Bundeshaus vorbei und durch das Käfiggässchen nachhause. An meinem Schreibtisch bestelle ich mir im Internet je zwei Autogrammkarten von Alain Berset und Simonetta Sommaruga. An den Dachrändern vor meinem Fenster kleben Tauben.