Melanie Müller

Der folgende Text ist ursprünglich für den «Bund»-Essaywettbewerb entstanden. Am 31. Dezember 2018, kurz vor Einsendeschluss. Schwab brauchte das Geld. Und ein Pseudonym, schliesslich hatte er gerade eben den letzten Tamedia-Lohn verprasst. Also schrieb Martina Lafranchi einen Text über den ganz normalen Drogenkonsum einer Frau Mitte Zwanzig. Mit Bildern von Jessica Jurassica.

Melanie Müller
Ein Selbstgespräch über Drogen
Martina Lafranchi

Präludium

«Es ist noch etwas feucht, aber es kommt schon gut Zwanzig Gramm Speed auf dem Küchentisch, die Paste sieht aus wie ein müder Schimmelkäse und riecht nach Lösungsmittel. Fast getrocknet liegt ein Bruchteil davon auf einem Teller, Melanie Müller hat Linien gezeichnet. Oder du mit ihr. Melanie Müller ist eine Bankkarte. Was ihre Besitzerin für eine Person war, weisst Du nicht mehr. Dann schnäuzt Du das Pulver rückwärts hoch, der unverdunstete Rest Lösungsmittel brennt fürchterlich in deiner Nase. Du magst diesen Schmerz. Du bist Mitte Zwanzig und Du bist alles gleichzeitig – in der Blüte, am Verdorren, Frau und Kind, verwurzelt, entgleist.

Niemand weiss, wer Melanie Müller ist, die an einem ähnlichen Abend ihre Bankkarte auf diesem Tisch vergessen hat und schliesslich fast ganz vergessen wurde. 

Also erzähl mir was zum Thema Drogen. Erzähl mir vom Rausch. Erzähl mir von der Ermüdung, von der Sucht. Von Uppers und Downers. Erzähl mir vom Sex auf Drogen, von Freundschaft und Vereinzelung, von Gedächtnislücken und Geistesblitzen. Erzähl mir von der Drogenpolitik, von der Repression und von der Aufklärung. Vom Drogenkrieg in Mexiko und vom Krieg an den Drogen in den USA. Erzähl mir von der Leistungsgesellschaft und vom Kapitalismus und von Perecs homme qui dort. Erzähl mir vom Strukturellen, vom Individuellen, vom Psychologischen, vom Pathologischen und vom Kulturellen. Und schau, dass es wahr ist.

Über Drogen schreiben heisst nichts Geringeres, als über die Menschen schreiben mit ihren vorzüglichen Talenten und ihren Dachschäden – und über die Umgebungen, in denen sie leben, die inneren, die äusseren. Die vorherrschenden Debatten über diesen Themenkomplex scheinen hingegen oft generalisierend, einfältig und in einem beflissenen Sinn sehr faul, sie werden mit Allgemeinplätzen dekoriert oder Schreckensbeispielen, die Clicks häufen. Es ist ein unredliches Unterfangen, über die Drogen so zu erzählen, als sei alles auf dem Grund eines soziokulturellen Milieus oder einer biochemischen Wirkweise schon längst zu Ende erzählt.

«Die Drogen» – schon diese Verallgemeinerung kann keine sinnvolle Einkreisung einer gesellschaftlichen Frage sein. Denn genauso gut könnte man über Kleider oder Essen schreiben. Über die Kultur- und Hegemonialgeschichte der Hose oder die Migrationsgeschichte der Küche Subsahara-Afrikas. Oder über profitable Fettsucht und vermarktete Annorexie und darüber, dass Kinder Kleider nähen in Südostasien und Konzerne Leid säen auf den Avocadofeldern in Zentralamerika. Menschen essen und tragen Kleider, kaufen Essen und kaufen Kleider.

Jede leistet sich eine Meinung zu den Drogen. Niemand lässt es sich nehmen, Position zu beziehen. Manchmal technisch oder wirtschaftlich, manchmal psychopathologisch, gerne moralisch und am liebsten, so scheint es dir, wird die ganze Suppe zusammen aufgekocht. Ein redlicher Versuch über die Drogen muss sich wohl beschränken. Dieses Stück beschränkt sich auf das Normale und die gesellschaftlichen Dinge, die daran kleben bleiben wie Resten auf einer anonymen Bankkarte.

Dieses Stück beschränkt sich auf Melanie Müller und dich. Du bist eine ganz normale Konsumentin in der Mitte deiner Zwanzig. Vor dir liegen zwanzig Gramm Pulver. Und ein paar ungelöste Fragen.

High

Nach der Linie gehst Du raus. Dein Säcklein hast Du mitgenommen für später und Melanie Müller nebst ein paar Blatt zum Röhrchenmachen. Irgendwann wirst Du darauf scheissen, das weisst du schon, irgendwann wirst Du die letzte Zehnernote dafür benutzen, jetzt bist Du noch sorgfältig und vorfreudig und wohlsortiert. Dein Kopf ist schnell und schnell tragen dich deine Beine über die Brücke nach der Stadt. Die Stadt ist voll von Streunern, Tagedieben, Nachtratten. Manche gehen in einen Club und manche bleiben draussen.

Wer sind diese Leute, welchen Platz misst ihnen die Gesellschaft zu? In der Rede über Drogen dominiert ein seltsamer Aussenblick. Es wird geredet vom Kokser und vom Kiffer, die natürlich Männer sind, vom Kokser als Sensations-Suchenden und vom Kiffer, der nichts auf die Reihe kriegt. Nur der Trinker ist dein Grossvater. Typisierungen, Pathologisierungen und Karikaturen werden reproduziert – erzählt wird dabei von aussen, aus dem auktorialen Off, das den Gelegenheitskokser und die kiffende Mutter im toten Winkel seiner Strereotypen nicht sehen kann.

Es gibt auch erfreuliche Beispiele, leise, ausnahmsweise. In ihrer als Beilage zur Wochenzeitung erschienenen Reportage «1,7 Kilo pro Tag» machten sich Daniel Ryser und Olivier Würgler daran, den Kokainverbrauch in Zürich auszuleuchten. Heraus kam keine Geschiche nur über Kleinganoven, Banker und Exzess – entstanden ist ein vielfältiges, für medialen Alarmismus druchaus untaugliches Bild. Das Bild nämlich einer kleinen Grosstadt und ihrer Lieblingsdroge, die das Leben von Angestellten und Beamtinnen, Künstlerinnen und Aussteigern, Akademikerinnen und Bürokraten ausnahmsweise, gelegentlich oder sehr intensiv mitprägt. Die Extremfälle bleiben dabei immer von einer sehr prosaischen, unaufgeregten Normalität kontrasiert.

Du kokst selten, weil es dir zu teuer ist. Ausserdem magst Du nicht, wie sehr es dich hochkatapultiert und dich binnen einer Stunde wieder auf dem Boden aufschlagen lässt. Amphetamine halten länger an, Du gerätst weniger in Rage und bleibst innerlich ruhig – obwohl dein Herz schlägt als wärst Du auf der Flucht vor irgendwas. Manchmal kannst Du nicht mehr einschlafen, bis zum nächsten Abend nicht. Wenn Du dann durch die geschäftig erwachende Altstadt ziehst, fühlst Du dich allem entgegengesetzt und freust dich diebisch. Wie ein Tramfahrer grüsst Du hie und da Verbündete auf deiner crime scene, im Flimmergeist verbündete, von denen Du vermutest, dass sie ebenfalls keine Sekunde geschlafen haben. L’homme qui dort, c’est l’homme qui refuse à dormir.

Afterhour

Die Menge macht das Gift sagen sie. Gift ist Gift, sagst Du und Gift ist geil. Über dir ist der Himmel und darunter dein Grab. Der Himmel wird hell. Vielleicht sind Drogen auch dein kleiner Tod und das Arschloch in dir, das sie hochzieht, ist eine kleine Selbstmörderin – Ein Freund reicht dir mit zittrigen Händen sein Telefon, nachdem er darauf die Pulverklumpen mit einer Bankkarte zerkleinert und zu Linien geformt hat. In dem schummrigen Raum befinden sich noch hundert Leute, es ist acht Uhr früh. Ob Du Lust auf Sex hast oder über die Welt nachdenken oder kurz die Augen schliessen, das weisst Du alles nicht, in deinem Kopf ist Pingpong der Bedürfnisse und niemand gewinnt. Nur Essen magst Du mit Sicherheit nichts. Du bist glücklich.

Wenn die Wochenenden günstig liegen, dann sind um diese Uhrzeit noch viele Menschen unterwegs. Einige wenige «lassen raus», verkaufen, meistens Koks, seltener Amphetamin, daran verdient sich schlechter. Die meisten Konsumierenden sind irgendwann bedient und denken vielleicht an den nächsten Tag, daran, wen sie gerne um sich hätten, und suchen ihre Jacken. Andere gehen nüchtern nach Hause, weil sie sich gerne im Windschatten jener aufhalten, die sich berauschen. Sie sagen zueinander: Das reicht mir aus. Andere lassen sich treiben, tasten nach ihren Grenzen und sagen zueinander: Morgen fällt aus.

Ein normaler Haufen Leute, ihr Rausch ist eine kulturelle Normalität. Die Art, wie dieser Rausch ausgelebt wird – ein Pluralismus an Bedürfnissen und Reizen. Für die einen mag es eine leise Lust der Selbstzerstörung sein, das Rauchen, Rupfen und Nächteauslassen. Das selbe, freizügig verschwenderische Moment hat für andere vielleicht eine lebensbejahendere Qualität. Vielleicht geht es um Abgrenzung, vielleicht geht es um Zugehörigkeit – und sehr wahrscheinlich ist es für die meisten Menschen aus diesem normalen Haufen, unabhängig von der Substanz, mit der sie sich berauschen, eine Mischung aus alledem und mehr.

Und doch verhält sich die Gesellschaft als jene Menschen, die über die Rahmenbedingungen des Drogenkonsums verhandeln, in einem immer präpositonalen Verhältnis zu den Drogen selbst; ist für oder gegen, auf oder unter Drogen – das kollektive Wissen darüber aber ist, im Gegensatz zum Reflex, sich zum Thema irgendwie gesellschaftlich oder juristisch positionieren zu müssen oder positioniert zu werden, kaum vorhanden oder von Missverständnissen durchwirkt.

Down

Als Dir bewusst wurde, wie sehr der Rausch Teil deiner späten Jugend geworden ist, hast Du dir eine Linie auf den Unterarm tätowiert. Die Zeichnung sieht aus wie eine schöne Narbe, ein Widerhall auf dem Echolot.

Normale Leute nehmen Drogen. Melanie Müller und Du. Wir müssen das begreifen in dieser uralten gesellschaftlichen Debatte von Missverständnissen. Wir müssen Fragen stellen: Was ist das für eine Droge und wie wirkt sie? Was sind die Reize dieser Droge? Was ist drin, was soll drin sein? Welche Erwartungen und Bedürfnisse gehen einem Drogenrausch voran?

Denn Drogen können süchtig machen und Menschen zu Karikaturen. Aber es ist nichts, was es sich hier zu erzählen lohnt. Es ist dir seit dem frühesten Kindesalter bewusst – deine Grossmutter ist besoffen und von Benzodiazepinen umnachtet die Treppe runtergefallen, dann liegengeblieben. Du hast dich später in die grossen Figuren der männlichen Popgeschichte verliebt, der Reihe nach in Cobain, Hendrix, Reed, Baker, Monk. Das einzige, was wir alle gleichermassen über die Drogen wissen, ist, dass sie gefährlich sein können. Schon klar.

Das Gespräch mit und über Menschen, die sich ausnahmsweise, gelegentlich oder sehr intensiv mit Drogen beschäftigen, es muss von einer grundsätzlichen Haltung aufklärerischer Neugier geprägt sein. Es wäre eine Kulturleistung, könnten wir uns über progressive Strategien im Umgang mit dem Rausch unterhalten. Und doch, denkst Du bei dir, ist der Gegenstand der Droge letztlich ein Platzhalter: Reden wir nicht eigentlich von Selbstverantwortung und dem Ideal eines kollektiv gepflegten Wissens?

Um dahin zu kommen, müssen wir Graustufen lernen in einer Welt, von der wir allzu oft denken, sie wäre in Schwarz und Weiss verstanden.

Um dahin zu kommen, müssen wir uns vielleicht an Melanie Müller erinnern: eine normale Frau, die sich manchmal berauscht und ab und zu ihre Bankkarte liegen lässt.

Irgendwann beschliesst Du, mit dem gelegentlichen Exzess zu brechen. Mit den guten und den schlechten Seiten – weil Du ein ruhiges Herz brauchst und Platz im Kopf. Weil Du keine Lust mehr hast. Melanie Müllers Bankkarte versenkst Du in der Schublade. Dann fragst Du dich, wie es dieser Person, an die Du keine Erinnerungen hast, wohl gerade geht. Vielleicht erwiderte sie die Frage. Und vielleicht ergäbe sich ein schönes Gespräch von Wünschen und Ängsten – und dem gemeinsamen Menschsein irgendwo zwischen Rausch und Rast.

Am Schluss würdest Du dann vielleicht sagen: «Aber es kommt schon gut.»

(Wie die Sache mit dem Essaywettbewerb schliesslich ausgegangen ist? Schwab hatte sich mit diebischer Vorfreude eine E-Mail-Adresse für seine Martina Lafranchi ausgedacht. Leider hat er das neue Postfach, kaum war der Text abgeschickt, kurzerhand komplett vergessen. Als er sich Monate später wieder daran erinnerte, wollten sie Angaben. Und da er Martinas Personalien mitsamt einer erfundenen Adresse endlich nachreichte, folgte lediglich die Antwort, man könne den Text aufgrund des Versäumnisses leider nicht mehr berücksichtigen. Wahrscheinlich hätte er damit eh keinen Blumentopf gewonnen – und als Zugabe zu unserer «Rave It Safe»-Recherche ist er hier auch ganz gut aufgehoben.)