Mutter Spaghetti → Danieli

Im City Night Line von Bern nach Rom wirst du um halb sieben wachgeklopft, räumst ächzend dein Bett zusammen. Draussen fliegen die Felder vorbei und einige verstreute Stadthaufen, Müll, Ziegen, es ist entweder sehr heiss, weil die Klimaanlage kaputt ist oder sehr kalt, weil sie läuft. «Tee oder Kaffee?» fragt der Zugbegleiter durch den Türspalt, dazu gibts nachher auf einem kleinen Plastiktablett angerichtet einen Cornetto im Plastiksack. Sonst nichts. Der Vater isst davon zwei, also meinen auch, weil mir sonst sofort schlecht wird, was schlimmer ist, als schlechte Laune zu haben. Wir ruckeln in Roma Termini ein. Traditionen halten eine Familie zusammen, also gehen wir zu Trombetta gleich an der Ecke gegenüber vom Bahnhofsausgang – schlechtgelaunt und hungrig den Eltern hinterher. Erster Cappuccino, zweiter Cornetto, ein Stück Pizza für mich.

«Ich mag zum Frühstück auch lieber salzig», sagt die Verkäuferin in der Dolceforno Pasticceria Danieli, Kirchenfeldquartier. «Sie haben ein Problem mit Süssem, die Italiener, klar: Am Morgen fängts an, schon die Cornetti haben Zucker drin, auch die leeren. Und nachher Nutella überall, du kannst jetzt Pizza mit Nutella kaufen oder Pizza con Nutella e patatine, also Pommes Frites, das ist doch verrückt.» Sie steht inmitten von Süsswaren, und ihre Pasticceria inmitten von nichts, hier, an diesem langen, traurigen Wurm von Strasse. Kaum Laufkundschaft, aber trotzdem dieser Laden, Ecke Mottastrasse, der von aussen so italienisch aussieht und von innen nach süssem Hefegebäck und Zuckerguss riecht. Normalerweise stehen draussen auch ein paar Tische. Es gibt Kaffee.

Als ich zum ersten Mal da war, habe ich gefragt, ob sie gerade neu aufgemacht hätten und die gleiche Frau, die schon da hinter der Theke stand, meinte, einigermassen beleidigt, «ja, neu, wir sind seit dreissig Jahren hier.» 33 Jahre, um genau zu sein, Danieli beliefert die Glasbehälter von Sattler oder Barbière mit Amaretti, die Mensa im Kirchenfeldgymnasium gleich gegenüber mit Backwaren, begleitet Taufen mit Torten und Lockdownmüde mit Blechpizza, die man daheim nur noch in den Ofen schieben muss. Panettone zu Weihnachten, Colomba und Osterhasen zu Ostern, Glace im Sommer. Jetzt, in der Fasnachtszeit, sei der Laden etwas trostlos, ohne Spezialitäten. Dafür kriegt, wer freundlich fragt, in zehn Minuten einen Schnellkurs in italienischer Pasticceria.

Es ist so: Der Norden habe an Süsswaren nichts Namhaftes hervorgebracht. Zwar würden Tiramisù und Torta della Nonna für sich beansprucht, allerdings seien die Rezepte so alt, dass niemand genau wisse, woher sie kommen. All das, was wir hier eventuell mit Namen kennen, Babà, Cannoli, Amaretti, Sfogliatelle und so weiter, stamme aus dem Süden – sagt sie, die selber Wurzeln in Apulien hat und in der Vitrine herumfuchtelt, um mir die verschiedenen Stückchen zu zeigen. Und so, wie es in Italien einen Graben zwischen Olivenöl und Butter gibt, der in erster Linie mit dem Klima zusammenhängt, unterscheidet sich auch hier der Süden vom Norden durch eine Grundzutat: Je weiter unten, desto mehr Mandeln, desto weniger Schokolade. Einfach, weil die Mandeln dort wachsen und die Schokolade in der Hitze schmilzt.

Die Basis also für die meisten ihrer Produkte sind Mandeln, die immerhin 54 Prozent Fettanteil haben und deshalb für Gebäck gut geeignet sind. «Wie Marzipan?» frage ich – sie lacht und schaut dann streng. «Sicher nicht. In Italien ist Marzipan ein minderwertiges Produkt, Abfall eigentlich, die Resten, die nach der Mandelverarbeitung übrig bleiben.» Gebraucht wird pasta di mandorle, die bloss aus zerriebenen Mandeln besteht. «In der Schweiz, wo ich die Lehre gemacht habe, verwenden sie für Marzipan zum Teil siebzig Prozent Aprikosenkerne. Ist billiger. Oder es ist gleich vollständig künstlich hergestellt.» Aber in Italien sei es schlussendlich auch nicht besser, «100% italiano» heisse oft nicht mehr, als dass etwa die Pelati dort hergestellt würden, die Tomaten kämen trotzdem aus China, «dann hast du einfach hundert Prozent italienisches Wasser, super.» Und überhaupt seien die Italiener selber Schuld, wenn man sie nicht ernst nehme: Klar, dass der Panettone nicht gut sein kann, wenn er im Laden nur ein paar Franken koste.

Bei Danieli arbeiten sie ohne Zusatzstoffe, ohne Backtriebmittel, Konservierungsstoffe, Stabilisatoren. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ihre Gipfeli von irgendeinem Lifestyle-Blog nur gerade als zweitbeste in der Stadt bezeichnet wurden – sie reagieren auf das Wetter, bei Regen sind sie weniger knusprig. Keine italienischen Cornetti übrigens, sondern nach Schweizer beziehungsweise französischem Rezept, ohne Zucker und mit hundert Prozent Butter. Also nicht mit Strutto, Schweineschmalz, oder Pflanzenöl, die in Italien wahlweise für die Cornetti gebraucht werden. «Das würde hier nicht gut laufen», meint sie, es sei am Schluss auch bei den Rezepten immer ein Abwägen. Sfogliatelle zum Beispiel, ein neapolitanisches Blätterteiggebäck mit Crèmefüllung, ohne Strutto? «Kannst du schon machen. Sie sind dann einfach grusig.»

Dolceforno Pasticceria Danieli, Kirchenfeldstrasse 40a, 3005 Bern. Öffnungszeiten Montag bis Samstag morgens 07.00-11.45, nachmittags 14.30-18.00. Montagnachmittag, Mittwochnachmittag und Sonntag geschlossen. 

Dass die Herkunft einiger «traditioneller» Speisen so traditionell gar nicht ist, zeigt etwa der «traditionell neapolitanische» Babà, ein süsses Hefegebäck, mit Rum und Zuckersirup übergossen. Ursprünglich slawisch, fand er der Legende nach über den polnischen König Stanislaus I. Leszczyński Anfang des 18. Jahrhunderts nach Paris und anschliessend von da nach Neapel.

Mutter Spaghetti heisst: KSB isst. Und macht sich einzwei Gedanken dazu. Weil Essen Kultur ist und der Bauch das zweite Hirn.