Der Postautofahrer schwenkt sich durch die Kurven und berichtet von seiner Diät, nur auf Weizen, Zucker und Milch habe er verzichtet und schon dreissig Kilo abgenommen. Dass er ausserdem aus Langenthal komme, dort Hockey gespielt habe bei den Langenthal Devils – jetzt aber nicht mehr. Sein Freund in der vordersten Sitzreihe meint, die Schwägerin von diesem und jenem, die sei auch aus Langenthal und der andere wieder: «Eben, es gibt bei den Devils auch eine Damenmannschaft.» Von Fiesch über Ernen fahren wir nach Binn, Langthal. Wir wackeln mit weichen Knien hinaus, laufen zwei Kilometer durch einen wilden Wald: «Gasthaus Heiligkreuz» steht auf einem Schild geschrieben, da wollen wir hin.
Fünf Täler kommen hier zusammen, die Bergspitze geradeaus, das ist schon Piemont. Gestern noch hat es geschneit, die Wiesen sehen hart aus – fähig, einen zugigen, ausgedehnten Winter zu überstehen, sie beherbergen Steinbrocken und diese wiederum Schlangen, ob es die giftigsten der Schweiz oder die meisten giftigen der Schweiz sind, sind sich jene, die darüber etwas zu wissen scheinen, nicht einig. Geschneit hat es also und die weissen Krokusse, die überall zu blühen begannen in der letzten Woche, begraben, ihre Köpfe bleiben geschlossen, auch als der Schnee geschmolzen ist.
Ein Freund hat eingeladen, zur Eröffnung der Sommersaison, in der er und seine Mutter, die Tante und der Cousin das Gasthaus führen. Ein eigenartiger Ort, wild und karg. Als jemand sagt, hier gebe es bestimmt Geister und vielleicht auch gar nicht besonders freundliche, widerspricht niemand. Die Geister sind auch in der Kirche, gleich unterhalb des Gasthauses, eine kleine Wallfahrtskapelle in dieser schwer religiösen Pilgergegend. Die lieben Verstorbenen sind als kleine Fotografien an die Wand gepinnt und erzählen Geschichten, an den Wänden macht Jesus seine Etappen. Man kann hier mehr als anderswo spüren, wie heidnisch die Katholik*innen auch sind, der Wald und die Geister und das Kreuz, der Himmel, die Berge, der Wein. Magisches Denken. Ich zünde eine Kerze an für Nonna, die vor ein paar Tagen Geburtstag gehabt hätte und von diesem Ort gewusst, ich bin sicher.
Valentin ist nervös, er wirbelt im gestreiften Leiblein und weisser Schürze herum, serviert Naturwein, Crostini mit Krautstielen, Erbsen- und Bohnenmus. Nach dem Schnee kommt der Regen, wir werden berieselt, rauchen und trinken schnell. Neben dem Gasthaus, zeigt uns der wirbelnde Valentin, steht ein kleiner Schopf, er sieht aus, als hätte man ihn am Ballenberg ab- und hier wieder aufgebaut. Man kann Feuer machen und auf einem schweren Gusseisenrost Raclette. Und das Gasthaus: Ein schlichter Holzbau, erst zwanzigjährig, ein älterer ist 1999 abgebrannt. Ein paar Schlafzimmer, ein Aufenthaltsraum mit Ofen. Der freundlich eingerichtete Essraum mag dem SAC-Hütten-Gefühl etwas entgegenwirken, es gibt guten günstigen Wein aus der Gegend und ein Menü, drei Gänge, Spargeljalousie, Sauerteigbrot, Süsskartoffeln – und Wurst von der Metzgerei in Reckingen, ein paar Kilometer weg (die, es ist wahr, von einem Mann namens Beat Eggs geführt wird). Es ist alles neu, nicht ganz fertig, ein Experiment. Herz überall.
In der Nacht ist es in diesem Kessel so dunkel, man glaubt, die Berge, rundherum wie Wände hochgezogen, würden einen bald ganz umschliessen und verschlucken. Der Mond scheint nicht, aber Elon Musks Satellitenkette zieht über unseren Köpfen vorbei, da rennen alle heraus und staunen. Am Tag darauf lässt die Sonne die Butter auf den Frühstückstellern schmelzen.
Das Gasthaus Heiligkreuz ist bis Oktober täglich geöffnet, für Reservationen zum Übernachten hier entlang. Essen kann man auch am Mittag, Wanderungen bieten sich an. Ein paar Kulturveranstaltungen, sagt Valentin, wird es bestimmt geben – sobald sich das alles ein wenig eingependelt hat.
Mutter Spaghetti heisst: KSB isst. Und macht sich einzwei Gedanken dazu. Weil Essen Kultur ist und der Bauch das zweite Hirn.