Vom gemeinsamen Topf: Robin Zurbrüggs zweiter Wink aus Louisiana.
«Come on, dude. Let’s go» sagt D., der Mitbewohner, zu mir. Ich ziehe meinen Helm über und justiere das Rücklicht. Der Helm hilft meinem Image nicht, aber Sicherheit muss gewährleistet sein. Mein Albtraum ist es immer noch, ohne Helm einen schlimmen Unfall zu bauen. Und dann vom Spital aus meine Mutter anrufen zu müssen. Ob ich einen Helm anhatte wäre ihre allererste Frage. Es wäre mir zu peinlich.
Vor uns ein spektakulärer Sonnenuntergang, hinter uns die übliche Geräuschkulisse der Quartierbar, Mercede’s Place (Betonung auf der ersten Silbe, hat mit dem deutschen Luxuswagen nichts zu tun). Schreie, Gelächter, Motorradrennen. Wir befinden uns an vorderster Front der Gentrifizierung. Holy Cross, Lower Ninth Ward. Bis Katrina noch ein mehrheitlich schwarzes Arbeiter*innenquartier. Nach Katrina hauptsächlich leer. Und jetzt eine Mischung aus denen, die es sich nicht leisten konnten, wegzuziehen, armen Künstler*innen und Strassenpunks. Zwischendrin, wie Späher in feindlichem Revier: einzelne renovierte Häuser, alle mit «For Sale»-Schild. In zehn Jahren ist hier das neue Bywater.
Mercede’s Place ist wegen Corona offiziell geschlossen. Man hat die Tische nach draussen verlegt und macht weiter wie bisher.
Wir fahren an den Mississippi, um das Kreuzfahrtschiff Carnival Valor anzuschauen. Wir winken den Menschen zu, die wegen des Ausbruchs darauf eingesperrt sind. Sie winken nicht zurück. Wir sind so tief unter dem Wasserspiegel, dass wir zum Schiff hinaufschauen müssen.
Weiter zum French Quarter. Normalerweise wäre jetzt Jazzfest, unsere Hauptsaison für Tourismus. Die Strassen sind leer. Auf der Haupttourimeile, Bourbon Street, veranstalten wir ein Wettrennen. Ich lasse D. gewinnen. In der Zeitung hiess es, die Ratten hätten sich zu Banden zusammengeschlossen, um auf der Strasse nach Essen zu suchen. Ihnen fehlt der Müll, ihre Nahrungsquelle. Wir sehen keine, hoffentlich sind sie nicht alle verhungert.
Hier hat alles angefangen. Man weiss jetzt, dass das Virus schon während Mardi Gras in der Stadt war. Millionen von Menschen zusammengepfercht in den schmalen Gassen der Altstadt. Der Austausch von Körperflüssigkeiten ist schon in den besten Zeiten beunruhigend, sans Pandemie.
Heute hinterfragt man die getroffenen Entscheidungen, aber man muss die Sache mit Verständnis sehen: Zur Zeit des Ausbruchs hatte die Stadt weder Ahnung noch Testmöglichkeiten. Dr. Del Rio, Epidemiologe der Emory University, hat es pointiert ausgedrückt: Man hätte die Bürgermeisterin hingerichtet, hätte sie Mardi Gras abgesagt. Dr. Del Rio ist offensichtlich ein Stadtkenner.
In New Orleans nimmt man es ernst mit dem Feiern.
Als die Bürgermeisterin einige Wochen später die St. Patrick’s Day Parade absagte, kam es zu Protesten. In anderen Städten sind sie bewaffnet, hier waren sie verkleidet. Die Polizei musste einschreiten. Die Bürgermeisterin war wütend und enttäuscht.
Diese Stadt kennt nur eine Lösung für Tragödien. Man feiert, isst und trinkt zusammen. Egal ob Beerdigung oder Naturkatastrophe. Wie sollte man nur diese Krise bewältigen? Es gibt eine Reihe von spontanen Hilfsaktionen, organisiert durch Einzelpersonen oder durch Krewes, die sonst Mardi-Gras-Umzüge durchführen und versuchen, zu helfen. Sie machen tolle Arbeit (looking at you, #feedthefrontlinenola), aber man merkt, dass die gängige Lösung fehlt.
Ich will mich doch einfach für einen guten Zweck betrinken, Schulter an Schulter an einem Klapptisch stehen und Flusskrebse und Maiskolben essen vom gemeinsamen Topf. Danach ein Benefiz-Konzert meiner Freund*innen, bis ich schliesslich so voll bin, dass ich gar nicht bemerke, wie ich im Exzess zum Hauptspender geworden bin. Das ist zufällig auch genau, wie ich mir den Spendenanlass zugunsten meiner Lieblingsbar vorstelle. Ich hoffe, dass es gar nicht so weit kommen muss, und dass die das Ganze gut überstehen, aber wir bereiten uns auf das Schlimmste vor. Ich habe schon zwei Bands angefragt und einen Topf für den Crawfish Boil organisiert.
Hier sind die Bars nicht nur Bars. Sie sind eine Mischung aus Kirchgemeindezentrum und Gratistherapie, Familie und Rudel. Ich zitiere unsere Gesundheitsamtdirektorin, Dr Avegno: «We shut down parades, we shut down schools – within a week, completely changing our way of life. I can’t think of anything more drastic than shutting down the bars of New Orleans.»
Ich biege links auf die Canal St ab. Sie trennt die Stadt. Auf unserer Seite waren die Creoles, die Mischung aus Menschen, die hier wohnten, bevor Louisiana an die USA verkauft wurde. Uptown, die andere Seite, wo die Anglos hinzogen. Ihre Häuser sind weniger farbig, als Trost haben sie mehr Geld.
Wir fahren Slalom auf der leeren, sechsspurigen Strasse. In der Höhe sieht man Fenster, Reihe um Reihe, Hotel-Wolkenkratzer.
Aber es brennt kein Licht.