Punk auf Stahl

1st March 1995: My last year in school is great so far, the best-looking girl in class is my girlfriend. With some of my schoolmates I have a graffiti crew: Uptown Funk. We are rocking hard; bombing funky pieces, painting the outside and tagging the inside of trains, getting high and partying. But I have a goal and promised my parents that I would pass the exam for art school.

Still Alive, in: Wearing Sunglasses at Night, Diary of a Graffiti Writer, veröffentlicht im März 2021

Das Glühen beim Lösen der ersten Interrail Tickets im Leben. Oh, du Aussicht der verschaukelten Nächte, auf ausgebeulten Liegesesseln deutscher Nachtzugwagons, hinter kondenswassernassen Fenstern, zwischen sibirischen Tannen, Cinque Terre und bis auf scheiss Paris reicht die hoffnungsschwangere Existenz. Wer keinen Kopf mehr dafür hat, Disclaimer: mein herzliches Beileid und spart euch die folgenden Zeilen, I don’t want to rub it in your face. An alle anderen –

next stop: Eldorado.

Still Alive – wir hatten bereits das Vergnügen – mit seinem Fotoarchiv an gesprühter Historie; vom Berner Oberland bis nach Adis Abeba, vom Ende der 80er bis in die gottlose Gegenwart. Jetzt kommt das Tagebuch. Coming of age in gebundener Form und das riecht gleichzeitig nach Americana, Aaretal, fuck Bush und Adolf Ogi. Erster Eintrag 25. Juli 1989: Skatepark Frutigen, kurz vor dem Mauerfall. Ein dicker Filzstift – das Erweckungsmoment – im Kopf geht die Leinwand runter. Danach von der Peripherie in die Kleinstadt. Thun City, Café Bar Mokka, MC Anliker, altes Selve Metallindustrieareal. Schweizer Graffiti-Mekka zu dieser Zeit, goldene Ära, die Bern Lötschberg Simplon Bahn wird unfreiwillig zur dynamischen Galerie einer da noch neuen Jugendkultur. Und der Bauern- und Beamtenkanton kommt darum so allmählich auch international auf die Karte, die Szene in Kontakt mit dem Ausland. Deutschland, der Süden, interkontinental – für Still Alive folgt ein Traum in allen Farben, in allen Himmelsrichtungen quer durch Europa, naher Osten, bis über den grossen Teich, Lateinamerika, USA hin und her. Tausend Liter Chrom, tausend und eine Nacht. Windrosen blühen zwischen Hochhäusern und im Schotter.

Dein Zuhause ist die Welt, Kontinente schrumpfen gefühlt auf die Grösse eines U-Bahn-Plans, die Zugluft im Tunnel zieht dich in den Kaninchenbau – Goldrausch. Assoziationsfeld Abenteuer, denk dich hin, die Wende zum letzten Jahrhundert, Jeunesse dorée, Antarktisexpeditionen oder ab in den Busch. Jetzt ohne Grossbürgerdünkel, von unten her gedacht, transponier das auf Hip-Hop, Fat Laces – 90er-Jahre. Still Alive als Exponent unter vielen, einer Bewegung, die das Urbane und ihre Verkehrsnetze als kreative Herausforderung verstanden haben, die Agglo, der Stadtraum, Regionen, ganze Länder als künstlerische Spielplätze – ohne Rücksicht auf Verluste. Aber nur wenige haben eine so freie Bildsprache dabei entwickelt wie er. Pionier gegen den Purismus in der Subkultur, mit diesem «Anarckeyyy!» auf der Zunge und der bleiernen Schwere des Normalbürgerlichen als Sprengsatz hinter der Amygdala. Platz da, die Clubs im Techno – also gabs den Punk jetzt am Beton in farbigen Lettern und auf rollendem Stahl.

11th September 2001: This afternoon we took the train to Milano with Greys, a Portuguese writer we met in Lisbon … He talked about airplanes, the Twin Towers, the Pentagon and some attacks. It was still another hour to get to Milano. When we arrived there, things were different … We checked the subway yard but felt that painting the subway maybe was a bad idea tonight, as army soliders were protecting the yard. We ended up in the Garibaldi Yard … to paint Interregio trains instead. My piece expresses today’s strange atmosphere.

Das Problem der Heldengeschichte – dem Protagonisten widerfährt Absolution, Weihrauch hat maximales Verdrängungspotential und Kirchenväter salben sich am liebsten im Mythos. Rauschmittel brauchen Beipackzettel, der Rave braucht mindestens Rave It Safe und Still Alives «Wearing Sunglasses at Night» will eingeordnet sein.

Was hier aufträgt, ist der alte Trick der Heldenreise (oder heisst das einfach erfülltes Leben?), viel eher als die profane Glorifizierung, wie man sie von der Tresen- und Feierabend Aufschneiderei her kennt. Das drückt sich aus in diesem Tagebuch, der Weg das Ziel und daran zu wachsen. Still Alive kommen denn auch immer wieder gute Geister zu Hilfe, auf seiner Fahrt – die Gefährten – eine Schwester, die alte Bekanntschaft, neue Freunde. Auf andere angewiesen sein ist die Aussage (besonders darum, weil das Buch ohne Archivierung des Rohstoffs durch Drittpersonen, wie man erfährt, gar nicht hätte entstehen können). Zwischen Verstrickungen mit Gesetzeshütern und, wer kennt sie nicht, den Abschrankungen der verwalteten Welt. Und so entfacht diese Geschichte eine Vertraulichkeit – vorausgesetzt man ist nicht verheddert in Eigentumsrechte – wird anschlussfähig, wäre es bis weit über die Grenzzäune der Subkultur hinaus, hielte denn drüben für sowas wer die Augen offen, im Hauptstrom, in einer Zeit, da das Jetzt als Handlungsspielraum so gelähmt scheint – von Sachzwängen. Der Wunsch, die Kakteen im Kopf zu verpflanzen, im Tausch gegen botanische Gärten, das ist der Schlüssel für diesen gedruckten Schatz. Das geworfene Dasein zu geniessen, vielleicht, oder das Ausgeliefertsein, sicher vom Teufel geritten, geklatscht werden wir alle von der Peitsche der sinnlichen Kraft.

Letzter Eintrag.

22th May 2006: Sometimes you get lucky and are able to paint, sometimes you don’t. Anyway, these trips are always a success. Traveling with fake Interrail tickets through Europe and getting to know so many cities and people just based on a devotion for graffiti is great. I love it.

«Still Alive, Wearing Sunglasses at Night, Diary of a Graffiti Writer» ist im Eigenverlag bei «Nonstop Publishing» in einer Auflage von 500 Stück erschienen. Die Autorenschaft ist unbekannt. Die Geschichte schliesst fiktionalen Gehalt nicht aus. Das KSB-Kulturmagazin ermutigt niemanden dazu, das Gesetz zu brechen.