Rec Out → Dreamer

What do you do when your life breaks down? You fix it. Stefan Schönholzer aus Zürich (32) hat sich einen neuen Conditioner geholt und macht fleissig Beugen für mehr Rumpfstabilität. In der Tür seines Zimmers in der Berner Lorraine klemmt eine Stange, zu Mittag gibts Rüeblisalat, auch am Abend verzichtet er auf Alkohol und Kohlenhydrate. In den Seuchenzeiten hat sich der Schauspieler und Rapper die Uniform eines Lieferdiensts angelegt, doch heute zieht er sich für die Arbeit aus, denn Stefan Schönholzer träumt von einem besseren Leben. Er liest seine Rolex und weiss, dafür ist es jetzt die Zeit.

140 Kilometer Richtung Osten: In Meilen an der Goldküste, wo vor weniger als hundert Jahren der paranoide Herr General Wille tot von seinem Ross fiel, bimmelt Magdalena Martullos Telefon. «Bin grad da», schreibt Rotchopf, wie Schönholzer im Adressbuch der Milliardärin und im Katalog seiner Callboy-Vermittlung aufgeführt wird. Martullo antwortet:

Ich han die zäh mille für dich in bar boy
Ich vermisse diin luschtstab boy
Din body dini shiney rote haar boy
Dis face unter miim arsch boy
Seven licking steps ich bin scho nackt boy

Der Callboy braucht mehr Geld. Denn wer mehr Geld hat, braucht mehr Geld, er muss die Sache heute klären. «Los e mal ich hetti da e frag girl: Chömmer mitem priis ufe gah girl?», sagt er zu ihr, in den Unterhosen auf der Biedermeier-Couch, er trägt das versuchsweise in einer weinerlichen Stimme vor, während unten am Fährhafen das letzte Schiff nach Horgen in den See sticht. Martullo weiss, dass sie ihren Rotchopf an der kurzen Leine hat.

You’re a dreamer
You dreamer du, näi
You’re a dreamer
You dream du, you dream

Er nimmt ihr die rahmenlose Brille ab und dann den Blazer, sie macht sich an seiner polierten Gurtschnalle zu schaffen – alles zum alten Preis. Martullo lässt die motorisierten Blenden der Fensterfront runter. Die Herrscherin am Zürisee will eine äquatoriale Nacht: Sie will es frühdunkel und feuchtheiss und sieben Liebesschritte später verrenken sich die beiden, verlieren ihren Stand, sie erheben sich und lassen sich auf ihre nassen Körper herab. «Du chasch alles mit mier mache baby schlah mi, chaschmi fessle chaschmi chneble so shibari.»

Aber eine wie Magdalena Martullo, aufgespannt wie ein Regenschirm über dem dampfenden, roten Kopf, weiss um ihre Macht und über die Wölbungen ihres Körpers rinnt der Schweiss, tropft auf ihren Boy, so, wie das Kleingeld ins Portemonnaie des verführten Verführers sickert – trickle down funktioniert, das haben die Neoliberalen immer gewusst und Rotchopf hat es am eisernen Arsch des Kapitals gelernt, «under de Martullo.»

Das ist natürlich alles nur eine Geschichte, erzählt in zwei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden. Gute Geschichten sind etwas Schönes, weil sie Fragen aufwerfen. Und je besser die Geschichte ist, desto mehr und kompliziertere Fragen stellen sich – und der gleissende Himmel über den Ausläufen des Zürcher Oberlands, der den See wie einen grossen Spiegel aufscheinen lässt, auf dem sich alle Fragen wegkoksen liessen, der verdunkelt sich mit Wolken.

Satt von ihrem Spiel liegen Magdalena und Stefan rosa in dieser Dämmerung und versuchen, in den Verfaltungen des blauschwarzen Wasserdampfs Schäfchen zu erkennen, Dinge, Muster und Figuren. Wer mehr Fragen hat, braucht mehr Fragen. Es ist ein himmlischer Magenkrampf, der sich da zusammenzieht.

«Eine reiche alte Frau.»
«Ein viriler Schauspieler.»
«Wir reduzieren uns.»
«Aufs Kapital.»
«Mit Macht kommt Verantwortung. Siehst du das da oben? Es sieht aus wie ein umgekehrtes Herz.»
«Oder wie ein Hirn. Oder ein Stein.»
«Oder ein Arsch von hinten.»
«Weisst du, wer in der Abmachung von sexueller Dominanz und Unterwerfung am meisten Macht besitzt? Die unterworfene Person: sie definiert die Grenzen.»
«Was meinst du mit Verantwortung?»
«Es kommt wohl auf den Preis an.»
«Du machst mich zu einer Projektion. Aber was machst du, wenn der Beamer kaputtgeht?»

«Und ich weiss, dass deine Hiphop-Freunde über mich lachen. Sie ekeln sich genüsslich darüber, was wir treiben. In ihrer Vorstellung vögelst du mit einer alten Herrin, die alles hat, ausser eine Sexualität. Sie fragen dabei nicht nach meinem Begehren. Sie versichern sich ihrer eigenen Wünsche und sie lachen: ‹Wie der Vater, so der Sohn›. Sie denken, du vögelst mit einem Schrank voll Geld. Die würden sich noch wundern über unsere Zärtlichkeit, boy.»

Die Autofähren auf dem Zürichsee gehen jeden Tag hin und her und zeichnen Linien auf den Spiegel. Stefan Schönholzer denkt sich, zu dieser späten Stunde, da kein Schiff mehr geht, dass er am liebsten für immer auf einer dieser Fähren stünde, für immer hin und her. Er würde am Bug lehnen, sich das glänzend rote Haar zerzausen lassen und nie ankommen wollen. In Horgen und Meilen, wenn das Fährschiff an Land zum Stehen käme, würde er sich im Maschinenraum verstecken.

Rotchopf «Dreamer», prod. Al Hug.

Rec Out ist da, wo du am Pult den Cinch-Stecker einstöpselst, damit was klingt am Jack-Ende. Bei KSB heisst Rec Out regelmässig Schreiben zu naheliegender Musik.