– und die Krux mit der engagierten Kunst. Moritz Achermann zu Besuch am Musikfestival Bern.
Es grenzt an ein kleines Wunder, dass die diesjährige Ausgabe des Musikfestivals Bern mit nur geringfügigen Programmänderungen über die Bühne gehen konnte. Bei näherer Betrachtung offenbart sich jedoch rasch, dass die programmatischen Prämissen die Durchführbarkeit des kleinen, aber feinen Neue-Musik-Festivals im turbulenten 2020 entscheidend begünstigt haben. Denn das Musikfestival Bern legt seit einigen Jahren den Schwerpunkt fast gänzlich auf die hiesige freie Szene und präsentiert diese in ihrer ganzen Vielseitigkeit. Etablierte Player wie die Camerata Bern treffen auf junge Ensembles, Schwergewichte des zeitgenössischen Musikschaffens auf neue künstlerische Positionen. Veredelt wurde das Ganze von den Stars der Neuen Musik – wenn es denn sowas überhaupt gibt – des Arditti Quartetts. Kleiner Wermutstropfen: Der japanische Komponist Toshio Hosokawa konnte nicht zur Residency anreisen.
Auch heuer glänzte das Festival durch ortsspezifische Arbeiten und originelle Spielstätten. Musiziert wurde im Dählhölzliwald, in der Monbijoubrücke oder im Blutturm (wo der Autor selbst performend mithupen durfte). Über allem schwebte das Motto «Tektonik» in seiner ganzen Assoziationsbreite und Unschärfe.
Samstagnachmittag: Ausflug ins städtische Paralleluniversum Bethlehem zum Steinatelier Bernasconi AG. In einer der Werkhallen des Areals singen die Steine. Über dem Klavierquartett thront die Eurosäge 2000. Links und rechts sind Litophon und Orgalitho aufgebaut: ein steinernes Xylofon und eine Glasharmonika mit Steinplatten, ungefähr. Irisierende Mischklänge scheinen das Raum-Zeit-Gefüge ins Wanken zu bringen, die mikrotonalen Schattierungen in den Kompositionen von Edu Haubensak, Matthias Steinauer und Samuel Cosandey werden vom Mondrian Ensemble mit hinreissender Präzision und Klangsinnlichkeit musiziert. Nicht einmal die Störmanöver des beflipflopten Spitzbart-Idioten neben uns in der Reihe vermögen dieses magische Klangerlebnis zu trüben. Danach gibts im bedachten Innenhof die lyrisch-ephemeren Klänge des Composers in absence Toshio Hosokawa zu hören, berückend dargeboten von Studierenden der HKB.
Doch kommen wir auf ein anregend misslungenes Format des Festivals zu sprechen. An drei Abenden wollte die Reihe «5vor12um6» Wissenschaft und Musik in einen künstlerischen Dialog treten lassen. Wissenschaftler*innen aus dem Feld der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsforschung sollten sich mit Komponist*innen zusammentun und einen diskursiven Abend rund um die neu entstandenen Werke zu diesem Thema kreieren. Die Präsentation als Mischung von Vortrag, Podiumsgespräch und Konzert hatte zwar Potential zu einem aufgelockerten Konzertformat, doch bot sie in der knappen Stunde den einzelnen Teilen zu wenig Raum. Schwerwiegender präsentierte sich jedoch die Aufgabestellung an die Komponist*innen, die sich eher für ein Matur-Aufsatzthema als für eine künstlerische Arbeit zu eignen schien. So präsentierte sich das musikalische Resultat eher dürftig. Etwas gar plakativ, wenngleich musikalisch reizvoll, kam Teresa Carrascos elektroakustischer Klimaalarm mit Sirenengeheul daher, während Daniel Mouthon selbst formulierte Mails an die Forscherin Sabin Bieri im Kolumnenstil zu sagenhaft beschissener Musik rezitierte. Ricardo Eiziriks performativer Gag mit der brennenden Lunte und dem ausbleibenden Knall vermochte immerhin eine allgemeine Gefühlslage sinnig abzubilden.
Einen anderen Weg ging die Komponistin Isabel Klaus. Mit entwaffnender Ehrlichkeit eröffnete sie im Gespräch, dass ihr ob den Reports zur globalen Ungleichverteilung des Wohlstands das Musizieren erst mal vergangen sei und sie auch keinen Drang verspürte, diese Faktenlage kompositorisch zu verarbeiten. Stattdessen suchte sie das Prinzip von Ungleichheit in ihrem dreisätzigen Werk einer abstrakteren Form musikalisch abzubilden, mit sensationellem (und durchaus auch politischem) Ergebnis. Im ersten Satz rötzten der Kontraforte-Spieler Lucas Rössner und die Harfenistin Vera Schnider einzelne Töne vor sich hin, während der Cellist Jan-Filip Tupa den Umstand beklagte, dass er nicht spielen durfte und so im Publikum an ein kindlich-intuitives Ungerechtigkeitsempfinden appellierte. Der zweite Satz beschrieb den Versuch einer chromatischen Etüde im Ensemble-unisono. Wo der Cellist diese Aufgabe mit grosser Leichtigkeit vollführte, hatte die Harfenistin, wild pedalierend, ungeheure Mühe, auch nur halbwegs mitzuhalten. Der dritte Satz fuhr einen dadaistischen Protestsong an die Wand – von Lucas Rössner hinreissend komisch vorgetragen. Selten wurde in einem Konzert mit Neuer Musik so viel gelacht wie ob dieser durchtriebenen-gehaltvollen Arbeitsverweigerung. Ein kleines Lehrstück in Sachen gesellschaftskritischer Experimentalmusik.