Von hier an Mundgeruch

«Bund»-Essaywettbewerb,zweite Runde: An der Preisverleihung vor einer Woche mischten sich unsere Korrespondent*innen Getränke – und unter die Cervelatprominez. Ein dialogischer Gastbeitrag von Wolfgang A. Gokart und Frau G-Punkt.

«Debatten über Drogen bewegen sich oft auf vermintem Gelände. «Der Bund» ermutigte dazu, dieses Gelände furchtlos zu betreten, eine Vision für eine drogenfreie Welt zu entwickeln und die Utopie zu denken.» Aus dem Veranstaltungstext

Wolfgang A. Gokart: Nachmittags in der Küche, Trap auf Bluetooth-Boxen, zwei Kaffee, eine Zigi, die Sonne legt ihr ganzes Gewicht auf meine müden Augen. Ein Kurzbesuch auf der Bund-Homepage – vorsichtiges Abtasten des Mich-Erwartenden; eine drogenfreie Welt – eine Utopie? Der Boiler ist leer – langsam vermengen sich kalte Tropfen der Vorahnung mit meiner zuvor handwarmen Stimmung. Der heutige Abend verwandelt sich beim Näherkommen in ein unangenehmes Spannungsfeld zwischen Angst vor dem Verfehlen sozialer Konventionen und dem Streben nach Nonkonformität. Bei einer Zigarettenpause im Winter habe ich mich von den farbigen Buttons des Web 2.0 verleiten lassen und mit kalten Fingern einen 100-Zeichen-Text für den Slam-Wettbewerb eingereicht. Dann Einladung an die Preisverleihung des Essay-Wettbewerbs, geschmeichelt nehme ich an und organisiere Begleitung.

Ich treffe G-Punkt beim Brezelkönig Bollwerk. Zeit 17:30, Stimmung passabel, tendierend in Richtung negativer Anspannung. In meinem Rucksack befinden sich neben den normalen Ich-geh-raus-Utensilien eine 1.5l-Flasche Ballantinescola, bisschen Gras und ein Flachmann mit Zwetschgenschnaps aus der Bielerseeregion. Nachdem ich einem scheinbar Mittellosen aus Verunsicherung über das nichtvorhandene Münz und dem Portemonnaie, das irgendwie schon in meiner Hand war, eine 5-Euro Note in die Finger drücke, so verlegener «geht das auch?»-Abfuck, taucht sie vor dem CopyQuick auf.

Ein halber Liter Bier auf der kleinen Schanze und ein halber Migros-Spinatstrudel irgendwo im Niemandsland zwischen Bahnhof und Baldachin erleichtern mir das anschliessende Ankommen im Gewusel vor der Dampfzentrale. Zeit 18:25, Stimmung: besser, erster Eindruck: «Phu, es gibt auch junge Leute hier». Viele sind es aber nicht. «Gong!» macht der Gong, den die junge Bund-Angestellte appellierend durch die Menge trägt – schnell an die Bar. Der ist auch jung, Typ mit szenigem Haircut und Piercings erklärt uns die Abenddoktrin des «Keine-Getränke-in-den-Saal». Ein schaler Vorgeschmack auf den progressiven Umgang mit Rausch, der heute zur Schau getragen wird.

Frau G-Punkt: Wir kommen spät, zwei Bier Zigis einen halben Spinatstrudel und bisschen Anschiss intus, schönes Wetter draussen langweiliges Publikum drinnen, an der Bar bestellen wir Bier: «Die dürft ihr aber nicht mit reinnehmen.» Frechheit, sage ich, dann eben nicht, wir haben ja vorgesorgt. Der Gong tönt, jetzt aber alle rein.

Gokart: Beim Eintreten in den Turbinensaal empfängt uns konstantes Raschelgeräusch, kollektives Öffnen der GVB-Gummibärchenhäuschentüten, die im Verlauf des Abends Opfer von unzähligen unzumutbaren Wortspielen auf der Bühne werden – «Zuckerflash», haha. Eine einfache Lebensweisheit könnte aus der Empfindung gebastelt werden, Theater-, Kino- und Vortragssäle mit nummerierten Sitzreihen immer durch den falschen Eingang zu betreten. Brote fallen immer auf die Marmeladeseite. Äpfel nicht weit vom Stamm. G-Punkt und ich noch nicht unangenehm auf, freundlich entschuldigend drängeln wir uns auf unsere Plätze am Gang auf der anderen Seite der Tribüne. Zeit 18:35, Stimmung: tatsächlich vorfreudig.

G-Punkt: Drinnen treffen wir N und M, «was macht ihr denn hier, was, Whiskey-Cola, gute Idee!», sie setzen sich neben uns. Ich trinke aus der 1,5-Liter-Dennercolaflasche in grossen Schlucken, gebe sie rum, sie knackt laut. Gokart ist von den Gummibärchen («Wir versichern ihr Gebäude») begeistert und vom Bund-Brillenputztuch, die wir als Goodies bekommen, aber jetzt müssen wir still sein, es geht los. Video-Student*innen der HKB haben sich einen Spass mit Pillen gemacht, die hüpfen jetzt da vorne auf dem Bildschirm herum. Aber ich bin abgelenkt, weil vor uns ein älteres Paar steht und seine Plätze nicht findet, weil da N und M sitzen. Mir macht es Spass, ihnen zuzuschauen, zu beschweren trauen sie sich nicht, wollen sich aber auch nicht mit der Situation abfinden. Irgendwann geben sie auf und setzen sich nach hinten, ich nehme noch einen Schluck.

Gokart: Der Typ rechts neben mir, ein etwa fünfzigjähriger, sympathisch wirkender Mann, lange Haare und Brille spricht mit seinem Begleiter. «Dr BMW 507 isch dr schönscht Sportwage gsy wo’s je het gäh». Ich nicke bestätigend, ahnungslos aus einem undefinierbaren Impuls heraus.

Das ist ein BMW 507. (Bild: Stefan Krause, CC-BY-SA)

G-Punkt: Pamela Mendez spielt, Jürg Halter, laut Bund «Pionier der Spoken-Word-Bewegung», macht mich fertig. Jurypräsidentin Esther Pauchard, Ärztin und Krimiautorin, erzählt uns, sie sei noch nie über einen «Ladyschwips» hinausgekommen. Ich weiss nicht, was ein Ladyschwips ist, aber es tut mir trotzdem Leid für sie. Sie empfiehlt einen demütigen Anfängerblick, immer wider a öpis härega aus ob mes no nie hätt gmacht, das gefällt mir gut, aber sie meint eben Text und nicht Rausch. Chefredaktor Patrick Feuz, ebenfalls Jurymitglied, sagt sowieso, die Sorge um unsere Kinder nehme uns die Leichtigkeit, die uns die Drogen vorgaukeln. Fuck off goldene Mitte denke ich und ärgere mich, entgegen unseren ursprünglichen Plänen doch nur Alkohol dabei zu haben. Bei den Essay-Lesungen bin ich dann allerdings froh, nicht mit zuckendem Bein und angestrengtem Blick im Dunkeln zu sitzen, es ist schon so zu eng und zu heiss und zu lang und zu langweilig. Dafür schaffen wir die Flasche noch vor der Pause, müssen wir, Jürg Halter hört ja auch nicht auf mit seinen Sprüchen.

Gokart: Die Gala beginnt, das Licht geht aus. Neben mir scheppert es, das iPhone meines Sportwagenfreunds ist aus seiner Jackentasche auf den Tribünenboden gefallen. Ich intensiviere unsere Bindung durch hilfespendendes Handy-Leuchten. Lesen sei etwas Subjektives, postuliert Pauchard vorne, so hätten sie, Feuz und der dritte Juror Texte ganz verschieden aufgefasst. Interessant. Sie, Feuz und später auch Jürg Halter, tragischer Moderator des Abends, prügeln das Wort «berauschend» durch alle möglichen Verwendungen. Aufreger: Eine Biene umkreist Halters Kopf und verschwindet dann hinter dem Molton. Zeit: ca. 19:15, Stimmung: Anflug von Langeweile. Die PET-Flasche macht die Runde. Von hier an Mundgeruch.

G-Punkt: Die Essays: zwischen Erfahrung und Seelenstriptease, Heroin Alkohol Psychedelika in dieser Reihenfolge. Immerhin folgt niemand der Aufforderung des Bund, «eine Vision für eine drogenfreie Welt zu entwickeln und die Utopie zu denken» – wer das Utopie nennt, dem wünsche ich, ein Leben lang nüchtern mit Jürg Halter in einem Raum zu verbringen. Der Gewinnerin möchte ich übrigens nur dann gratulieren, wenn sie die ganze pathostriefende Geschichte über ihr Leben frei erfunden hat. Aber gäu, Lesen ist ja subjektiv.

Gokart: Währenddessen habe ich meinen Moleskin-Notizblock irgendwie verloren. Ich wühle seit gefühlten fünfzehn Minuten im Rucksack, immer wieder ertaste ich Flachmann, Etui, Kopfhörer, nur halt den Scheiss-Notizblock nicht. Ich beginne nervös zu werden. Mein Zustand hat sich durch die Dreiviertelflasche Whiskycola, die G-Punkt und ich uns zu gleichen Teilen einverleibt haben, deutlich verschlechtert. Mein neuer Sportwagenfreund schaut mir zu, ich erahne Mitleid. Ich muss pinkeln. Wie ein Käse, den man an einem Sommertag auf dem Tisch im Garten vergisst, schwitze ich übelriechenden Saft aus bleichen Poren. «Hast du auch so verdammt heiss?» frage ich G-Punkt. «Es ist schon warm», sagt sie. Endlich der Notizblock. Ich lege meine Füsse auf die Stuhlreihe vor mir und weise damit den glatzköpfigen Anzugtyp in die Schranken, der die Lehne für seinen lässig ausgestreckten Arm beansprucht. Zeit ca. 20:00, Stimmung: betrunkener Tiefpunkt.

Letzter Text, Pause. In einen Meinungsaustausch mit meinem neuen Freund vertieft, folge ich unserer Gruppe in Richtung Apéro Riche. Champagner und Kartoffelstampf. Teller mit angestecktem Weinglashalter. Apero like a Pro. Zweite Runde ans Buffet. Ich trage meinen Rucksack locker über eine Schulter. Plötzlich spüre ich nasse Kälte am Bein. Blick zurück: Auf dem Tisch ist ein Weinglas umgekippt. Rotwein auf weissem Tischtuch – ein Massaker. Ich mache ein Foto. Später touchiere ich den Arm eines älteren Herren mit dem Rucksack. Seine Begleitung raunt mir zu «Muesch chly ufpasse mit dim Rucksack, scho vorhär bim Wy». Entsetzen. Sollte ich tatsächlich… War das ich? «War ich das?» «Chönnt scho sy», sagt sie vorwurfsvoll.

G-Punkt: Beim Apéro Riche ducke ich mich durch die Menge, damit mich all meine ehemaligen Lehrer*innen nicht erkennen, die sich hier merkwürdigerweise versammelt haben, das Weinglas wie jemand Erfolgreiches im weissen Plastik an meinen Teller geclippt, Papayasalat Spargel Trüffelbrioche. Beim Anstehen merke ich, wie betrunken ich bin; den Wein stürze ich trotzdem runter, damits noch für einen zweiten reicht. NÜCHTERN und VERFÜHRUNG und RAUSCH steht mit blauem Edding auf die weissen Papiertischtücher geschrieben, oho.

Das Foto.

Gokart: Draussen. Rauchen. M, N und G-Punkt reden über die Texte. Ich frage immer wieder nach meiner Schuld. Die Scheissszene geht mir nicht aus dem Kopf. Niemand ist sich sicher. Ich gehe zur netten jungen Frau, zum besudelten Tisch. Sie bittet mich, mich im Kreis zu drehen, um mich von hinten betrachten zu können. Ich folge ihrem Wunsch und sie gibt mir die Absolution. «Das bisch nid dü gsy». Walliserdeutsch, schön wie nie. Zeit ca. 21:45, Stimmung: ziemlich erleichtert.

Nach der Pause lesen drei Teilnehmerinnen des Slam-Wettbewerbs «hintereinander ihre Tweets vor», wie Jürg Halter anzumoderieren weiss. Ich lache laut. Die «Sprintkategorie», Texte mit maximal 280 Zeichen, das Ganze als «Slam-Wettbewerb» betiteln. So viel dazu.

G-Punkt: Die versammelte Peinlichkeit hat bis nach der Pause gewartet: Über die 280-Zeichen-«Slamtexte» möchte ich lieber gar nicht reden. Gokart neben mir hat seine Stimme nicht mehr im Griff, er redet laut, ich lache laut, die Reihen hinter und vor uns sind leer geworden. Aber die zwei neben uns, die das Gleiche lustig finden wie wir, freuen sich über unseren Zwetschgenschnaps im Flachmann, zweite Hälfte, zweite Runde.

Gokart: Der Flachmann macht laute Geräusche beim Auf- und Zuschrauben, doch laute Geräusche sind mir mittlerweile egal. Ab und zu gebe ich ebensolche verbal von mir und werde von G-Punkt gemassregelt. Die Bindung mit meinem Sportwagenfreund wird mit Zwätschge begossen, auch sein grauhaariger Freund trinkt mit und bedankt sich. Vor uns bietet sich ein trauriger Anblick. Wir beobachten Jürg Halter, der sich in schlechten Interviewfragen an die Schreibenden verheddert und sich offensichtlich dafür schämt. «Was würdest du gerne weniger machen?» «Weiss nicht», antwortet die Gewinnerin des Abends und betretene Stille zwingt Halter zum Weitermachen. Ich verbringe meine Zeit mit Schwitzen und dem Ertasten meines Scheiss-Notizblocks. Schon wieder. Zeit: ca. 21:45, Stimmung: nicht der Rede wert.

G-Punkt: Gokart fragt mich dauernd, ob mir auch so heiss sei, er knöpft sein Hemd auf, fächelt sich Luft zu. Ja, sage ich und denke nein, so wie dir jedenfalls nicht, aber er bewegt sich auch dauernd, sucht seit fünf Minuten sein Notizbuch und danach nochmal solange einen Stift, HA!, ruft er laut aus, äs isch vore dinne gsi! Vorne dreht Jürg-haut-dr-Latz seine «Nüchternheitspirouette», mir wird schlecht. M hat den Kopf schon eine Weile in die Hände gesenkt, gehts dir gut? Nein, sagt N, er hält es einfach nicht aus hier. Bei ihm sei dafür alles eingeschlafen. Und vorne sagt Jürg seinen einzigen wirklich witzigen Satz des Abends: «Wir steigern nun die Dynamik – ich verschwinde von der Bühne.»

Gokart: Dann kommt das Ende, Jürg Halter hält ein Plädoyer über Kapitalismus, Konsumrausch, Überwachung und meint zum Schluss, wir sollen alle nicht vergessen, was die beste Droge sei. «Die Liebe», murmle ich in mich versunken. «Die Liebe» ruft Halter. Wir sind uns einig – one love. Mendez’ letzter Song, mein Sportwagenfreund und ich schunkeln, grunzen, lachen, applaudieren frenetisch. Endlich traue ich mich und nehme mein Feuerzeug. Eine Flamme im dunklen Raum zu deepen, melodiösen Riffs. Wie war das nochmal mit dem Rausch? Zeit: Nicht der Rede wert.

G-Punkt: Wir tröpfeln nach draussen, Zwetschgenschnaps Bier und Hip-Hop-Zigi, ich bedanke mich bei N und M, ihr wart echt eine Bereicherung. M lacht: «Ich wusste nicht, dass man für einen solchen Abend noch eine Bereicherung braucht.»

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