Angst vor dem Menschsein

Es ist kalt und Bedürfnisse gibt es unterschiedliche. Wer den Alltag draussen verbringt, muss sich arrangieren: Wärme gibt es in dieser Stadt kaum umsonst.

Die Gesprächsausschnitte in diesem Text stammen aus dem Megafon – Zeitung der Reitschule: Xaver Marthaler und Roman Vonwil haben sich mit Frauen, die auf der Gasse leben, getroffen. Und sie haben zugehört. Wir danken.

Die Namen sind alle geändert.

Leonie: Es gibt weniger obdachlose Frauen als Männer, das ist mir aufgefallen.

Amelie: Das ist mir auch schon aufgefallen.

Susanna: Weil Frauen eben besser irgendwie Unterschlupf finden können.

Laut der Gassenarbeit Bern hat sich die Zahl der Frauen, die sie bei der aufsuchenden Arbeit auf der Gasse angetroffen haben, im letzten Jahr allerdings verdoppelt. Und: Es gibt wenig spezifische Angebote für Frauen auf der Gasse, zu wenig. Frauen sind auf der Gasse mit anderen Problemen konfrontiert als Männer. In einem Interview mit dem Megafon spricht die Gassenarbeit Bern von sexualisierter Gewalt im Zusammenhang mit der Drogenbeschaffung, und eben auch davon, dass es für viele Frauen schwieriger ist, sicheren Unterschlupf zu finden: Im Sleeper gibt es zwar ein Zimmer nur für Frauen, aber nur ein Bad für Männer und Frauen. Für Frauen, die sich mit Sexarbeit finanzieren, beginnt das Problem schon bei den Öffnungszeiten: Um zehn Uhr abends schliesst der Sleeper seine Türen, wer länger arbeitet, bleibt draussen. Da sich viele Frauen ausserdem im öffentlichen Raum nicht geschützt fühlen, versuchen sie, nicht aufzufallen – was es für die Gassenarbeit schwierig macht, sie zu erreichen und zu unterstützen. Nicht nur Wärme, auch Schutz gibt es in dieser Stadt kaum umsonst.

Leonie: Schön wäre es, wenn man einen Sleeper machen würde nur für Frauen.

Amelie: Ja, das fehlt wirklich.

Leonie: Ich stelle mir das folgendermassen vor: Oben schlafen sie und am Morgen müssen sie raus. Unten hätten sie einen Raum, in dem sie sein können. Aber es gibt kein Geld für sowas…

Eine Motion im Stadtrat, die entsprechend eine Notschlafstelle für Frauen fordert, wird nun vom Gemeinderat zur Ablehnung empfohlen. Der Gemeinderat stützt sich auf Informationen der Pinto, und zwar ausschliesslich: Pinto sieht keinen Bedarf, also sieht auch der Gemeinderat keinen Bedarf.

Pinto legt Akten an, Pinto sorgt für Ordnung: Das ist der Auftrag, den sie von der Stadt bekommt. Und wer für Ordnung sorgt, den muss man fragen, nach welchen Massstäben sich das Ordnen richtet. Die Stadt muss sauber aussehen, im Winter vielleicht leuchten zwischen Münsterplattform, Waisenhausplatz und Kleiner Schanze, der Dreck in den Ecken und auf den Plätzen muss weg. Die Leute sollen sich bewegen, weitergehen, auf keinen Fall sitzen bleiben. Die Pinto mag etwas besser sein als die Polizei, ihr ordnungspolitischer Ansatz lässt sich allerdings nicht wegdenken.

Der Gemeinderat flüchtet sich derweil in eine bequeme Position, die kein Handeln fordert und nicht einmal, zuzuhören: denen, die mit den Menschen auf der Gasse neben der Pinto auch zu tun haben, die ausserdem anwaltschaftlich arbeiten und denen es nicht um irgendeine saubere Ordnung geht. Zuhören: auch denen, die tatsächlich auf der Gasse leben.

Leonie: Ich finde es einfach echt traurig, dass es hier in der Stadt Bern keine Möglichkeit gibt – egal ob jemand jetzt drogenabhängig ist oder nicht, jung oder alt oder wasauchimmer, mit oder ohne Hund – dass es irgendwie ein Haus geben würde, wo die Menschen hingehen könnten. Die ganze Woche.

Amelie: Aber was passiert denn? Erst vor kurzem in Zollikofen. Die hätten die doch drin lassen können. Das Haus steht leer und bleibt leer. Das finde ich so schade. Dass die Stadt den Menschen das Haus nicht gibt, wenn sie friedlich sind. Wenn’s Prügel gibt, dann begreife ich es (die Räumung, d. Red) aber solange es ruhig ist…

Selena: Das wäre ja schon nicht schlecht. Ein Haus mit so vielen Zimmern könnte man ja zur Verfügung stellen.

Amelie: Aber die (Politiker, d. Red) haben Angst vor dem Dreck, sie haben Angst vor dem Lärm, sie haben Angst um die Anwohner.

Monika: Sie haben Angst vor dem Menschsein.