Wir sind bleich und tot im Doppelstock. Ein Lichtanschlag der Simplonbahn tränkt den homo pendulus in ein hospitales Ultraweiss, hostile light design und heller als die Hölle – so muss es im Innern eines Teilchenbeschleunigers aussehen oder im Kopf eines Psychopathen. Bümpliz Süd, es ist Montagmorgen.
Zu dieser Zeit ist Herr B. mit dem Firmenauto unterwegs und biegt am selben Stadtrand in einen Seitenarm der Freiburgstrasse ein, wie ihn das Navi angewiesen hat. Es ist ein unangenehmer Tag, fad und unterschwellig gleissend. Wir treffen uns in einem Garten, Kies, etwas windschief die Stewi-Wäschespinne «LadyPlus» und ein paar aufgegebene Beete zwischen zwei identisch gebauten Häuserzeilen. Mansarddach mit stirnseitigem Heimatstil-Grusswort, Baujahr 1939, ab ins Reduit. Herr B. hat eine Wohnung zu übergeben auf Geheiss der Firma, einer Immobilien-Verwaltung. Und er hat sich neue Turnschuhe gekauft, die leuchten ebenfalls sehr hell. Das Swiss-Smile und den vertrauenswürdigen Händedruck müssen wir uns vorstellen, der professionell-sympathische, gut erprobte Ausdruck offenbart sich auch unter der Maske. Die Vormieterin ist schon da und hat ihren Lebenspartner mitgebracht, die Stimmung ist einigermassen nervös.
Sehr alt sei das alles hier. Sehr alt. Als die Türe aufgeht, ohne dass sich das Haus sofort und vor unseren Augen in sich zusammengelegt hätte, fällt Herrn B. ein Stein vom Herz, so alt sei alles, hallt es nochmal durch das Treppenhaus und ich frage, «ja wie alt denn?», er sagt «Dreissiger-, Vierziger- oder Fünfzigerjahre» und ich frage nicht weiter. Alt eben, sicher nicht modern. Ich schaue ins Dunkel des Reduits hoch und stelle mir vor, wie uns die Hausgeister auslachen. Dann stehen wir in der leeren Wohnung. Während uns die Vormieterin peinlich berührt durch die Zimmer scheucht, schreibt Herr B. ins Abnahmeprotokoll:
Küche: Sehr alt / abgenützt. Terrazzo-Boden mit Rissen versehen, stark abgenützt / Anstrich abgeschrieben. Freistehender Kühlschrank / Gasherd / Backofenblech defekt
Auch die Vormieterin findet alles sehr alt und hat sogar noch ein bisschen die Wände gestrichen, auf eigene Initiative. Ihr Partner schweigt. Er könne nicht gut Deutsch, sagt sie. Herr B. steht im Flur und wirft einen kundigen Blick auf die Sicherungen: Die seien auch wirklich «nicht schön» anzuschauen. Und der Parkettboden habe seine Lebensdauer schon längst überschritten, «da rechnen wir ma-xi-mal zwanzig Jahre», sagt er, «Kratzer, Dellen, Hicks», schreibt er – was mit Leben eigentlich bezeichnet wird, wenn der Parkett nach zwanzig Jahren schon mausetot ist, das fragt man sich selbst und man stellt sich vor, wie Herr B. in Verzückung vor einem wunderschönen neuen Sicherungskasten steht und lacht, während ihm ein gleissender Lichtstrahl die Gelfrisur noch flacher drückt. Man schweigt im freundschaftlichen Verbund mit dem stummen Lebenspartner und freut sich über weitere Ausführungen des Immobilienfachmanns, die im Grunde nichts erzählen, ausser: Alles hier ist auf eine obskure, sonderbar zeit- und formlose, regelrecht ahistorische Art alt und defektiv, es wird bald verschwinden, renoviert. Wir werden bald vergessen dürfen. In fünf bis sieben Jahren ist der Spuk vorbei – und bis dahin heuschen wir, was wir heuschen können und lassen den noch unverbrauchten Verwaltungsbürokraten entschuldigend mit dem Klemmbrett rumwedeln, als müsse er sich die Frage nach einer Mietzinsreduktion fächernd vom Leib halten wie heisse Luft.
Lichtschalter bei Küche schräg. Bad: Linoleum abgeschrieben / Wandplatten abgenützt / Sanitäranlagen viele Gebrauchsspuren. Korridor: Anstrich stark abgenützt / Abblätterungen
Wir unterschreiben den Zettel, die Frau lässt ihren Partner signieren. «Herr J.» schreibt er auf die Linie und es dämmert, dass Herr J. stillschweigend der eigentliche Vormieter, aber zum für sich selber sprechen irgendwie nicht vorgesehen ist. «Er zieht jetzt zu mir in die Länggasse». Vielleicht hat er sich sogar wohl gefühlt hier.
Die Hausgeister im Reduit lassen uns in den Estrich, wo es nach Estrich riecht. Das Abteil sollte schleunigst abgeschlossen werden, meint Herr B., «sonst ist nachher gleich alles vollgestellt.» Das Prekariat stiehlt nicht mehr, es stellt jetzt zu. Der Nichtsnutz von heute hat zu viel anstatt zu wenig, weil er sich einen Scheissdreck für Marie Kondō interessiert und im Internet Sachen bestellen kann. Er macht auch den Garten nicht. Und so wuchert alles fröhlich vor sich hin, im Dachstuhl und im Gartenbeet.
In der Dämmerung zünde ich den Hausgeistern eine Kerze an, sitze in der hallenden Küche auf den Terrazzoboden, der alles verzeiht und alles verschleiert, den harmlosen Krümel nicht von der Scherbe trennt und alles; Gut und Bös, in sein Spiel involviert. Ein Relativismus von Boden, ein metaphysischer Omnivor.
Stell dir vor, die Teufelsküche. Gas zischt, Feuer züngelt, Rauch raucht bis zur Decke. Das weisse Licht ist abgeschafft, wegen der Schatten, und die Konturen sind verdammt, eine wohlige Müdigkeit über allem, was noch aufgepeitscht herangestürmt war, wird leiser und dann still. In dieser Stille kann man die Hausgeister hören. Sie wachen über den Herd und über die Keramiksicherungen. Wenn diese Dinge, wie der weltliche Herr B. bekräftigt hat, «eigentlich nie Probleme machen», wenn ein Backofenblech aber «defekt» sein kann: Was ist das Alte ausser ein Ablaufdatum, eine Notiz im Protokoll? Wenn der Bleistift über das Klemmbrett fährt, kann man die Hausgeister lachen hören. Sie huschen durch die Risse im Parkett und feiern ihr Fest.
Den Bereich, der aus den Dingen besteht, die von den Archiven nicht erfasst sind, kann man als den profanen Raum bezeichnen. Die Dinge des profanen Raums werden nicht eigens aufbewahrt; wenn sie nicht durch Zufall erhalten bleiben, verschwinden sie im Laufe der Zeit. Der profane Raum besteht aus allem Wertlosen, Unscheinbaren, Uninteressanten, Ausserkulturellen, Irrelevanten und – Vergänglichen. Doch gerade der profane Raum dient als Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte, da er in Bezug auf die valorisierten Archivalien der Kultur das Andere ist.
Das raune ich dem lieben Terrazzoboden zu. Der schweigt wie ein gescheckter Buddha und die Hausgeister lachen. Wir fangen mit Einrichten an.
Zitate aus:
Übergabeprotokoll zuhanden Mieterin
Boris Groys, «Über das Neue – Versuch einer Kulturökonomie»