Das Strafmass heisst Staatstreue

Gerichtszeichnung von David Fürst

«Denn es ist das Strafgericht, das uns besiegt», die letzte Erkenntnis von Colonel Kurtz in «Apocalypse Now», bevor ihn Capitain Benjamin Willard in der Schlussszene mit einer Machete erlöst. Gleichzeitig zerteilen vor dem Tempel die Fleischerbeile der Indigenen einen Ochsen in kollektiver Trance.

Der Assisensaal im Amtshaus ist schwer an diesem Morgen, stumpf vom Dunst der Anwesenden und der Sonne des eingefallenen Sommers. Richterin Bettina Bochsler entledigt sich zur Urteilsverkündung schon früh ihrer Maske – muss kurz innehalten, salbt ihre Stimmbänder mit einem tiefen Zug dieser feuchten Luft und setzt an. Ihre Rede sollte wie ein Schwamm wirken; saugt sich durch die Schwüle im Raum, das Trockene ihrer Korrektheit. Alles Lavierte der letzten Wochen zu konterkarieren, die Stilisierungen, «politischer Prozess!», das Bellen, «zusammengerotteter Haufen!», der Volksmund, «mitgegangen, mitgefangen!» – Bochsler putzt das weg mittels ihres schlanken Juristendeutsch und setzt Leuchtpunkte. Manchmal brennt das wie eine Kerze:

«… vom Amtsgeheimnis entbunden.»
«… gespickt von raumzeitlichen Verknüpfungen.»
«… das Kollektiv gibt es juristisch gar nicht.»
«… gilt das Verwertungsverbot.»

Frau Bochsler taucht im Grau der Rechtssprache Perlen an die Oberfläche, die man gut und gerne auf Transparente malte. Und auch rhetorisch hält sie den Bogen in diesem gut stündigen Urteilsspruch gespannt.

Lange denken wir – das kann nur böse enden: Die Rechtmässigkeit des Vorgehens der Hausbesitzer sowie der polizeilichen Räumung der Liegenschaft an der Effingerstrasse 29 vom 22. Februar 2017 wird attestiert. Probleme bezüglich Anklageansatz seien keine auszumachen – der genaue Sachverhalt ist geklärt, objektive und subjektive Tatbestandsmomente sind gegeben. Latenzen linkspolitischer Ideen, die noch während der Plädoyers der Verteidiger*innen angeschlagen wurden, versenkt die Gerichtspräsidentin genauso radarsicher, wie sie die von der Gegenseite aufgegriffenen Scherben einer altbürgerlichen Moral zerschlägt. Nein zur stolzen Einsicht in die Notwendigkeit der Aktivist*innen und Nein zum scheinheilig tugendhaften Räsonieren der Gegenseite. Eine klare Absage entgegen jeder milieubedingten Ergriffenheit. Und Bettina Bochslers Stimme verschärft sich manchmal am Ende einer Satzfolge. Zittert leicht – ein Ausdruck des Schauderns entgegen jeglicher Süffisanz oder Bequemlichkeit. Ungeachtet des politischen Lagers.

Tonnen sacken still zu Boden. Schuldig im Sinne der Anklage. Der Hausfriedensbruch wird allen mindestens eventualvorsätzlich angelastet. Der Hauptanklagepunkt, die Gewalt und Drohung gegen Beamte, wird fallengelassen. Freiheitsstrafen sind vom Tisch. Man fasst sich mit beiden Händen an die Oberschenkel, stützt sich ab, lehnt sich etwas vor, schaut nach links und rechts: Finger fahren durch Frisuren. Wer die Sopranos gesehen hat, versucht abgeklärt zu bleiben, still und mit Stil – aber Erleichterung bleibt auch schweigend ein Toben. Die Gegenseite versucht ihrerseits Konsternation zu unterdrücken, professionell geknebelt im massgeschneiderten Zwirn oder der Uniform.

Und dann finden wir uns alle als Bettina Bochslers Kinder wieder. Als die Wolke des Realisierens sich verzieht, setzt die Gerichtspräsidentin zur Standpauke an: Gewalt gegen Beamte als moralischer Totalbankrott, gerade von Menschen, die Gewalt sonst programmatisch verurteilen, das Unterscheiden von Täter*innen und Täter*innen, wird scharf kritisiert (als der erste Schritt Richtung Stammheim?). Und mit feiner Klinge geht es dann gegen das Kommando der Polizei. Die nicht hinreichende Beweislast, die Angeklagten solidarhaftend für die Gewalt und Drohung zu verurteilen, ist nicht etwa die während der Verhandlung vieldiskutierte Menge an Einsatzmittel, die bei der Hausräumung verschossen wurde – das wird als rechtmässig taxiert – sondern, dass man den Schuss schlicht nicht lange genug halten konnte. Man hätte am Morgen des Einsatzes eine Frist setzen müssen: «Bis in einer Stunde haben sich die Besetzer*innen zu entfernen, sonst stürmen wir das Gebäude.» Eine taktische Kritik an die Adresse der Befehlshabenden. Die Mentalität eines Bataillons, das aus dem Überraschungsmoment den feindlichen Graben erobert, diese Virilität, sie verunmöglicht es dem Gericht schlicht, objektiv genug ein Distanzierungsmoment festzustellen.

Damit beweist Bochsler ihre juristische Sorgfaltspflicht. Den Aktivist*innen hält sie das Katz-und-Maus-Spiel vor, das Vorführen der Behörden vor der Räumung. Dafür zahlen sie mit der Verurteilung wegen Hausfriedensbruch. Und der Polizei hält sie vor, dass sie Militär spielen wollten. Dafür zahlt diese mit dem Freispruch der Angeklagten bezüglich des Punkts der Gewalt und Drohung gegen Beamte. Verletzungen, psychische Belastung oder langanhaltende Schädigungen der Gesundheit gegeneinander aufzuwiegen, ist hier darum korrekterweise fehl am Platz – so hart das für die bürgerliche Raison klingen mag, die das Urteil in der Presse als «rechtens» aber nicht «richtig» bezeichnete. Es braucht Überzeugung, ein Haus zu besetzen und es braucht Grundsätze, Polizist*in zu werden. Beides bedeutet ein Risiko, das man zu tragen bereit sein muss. Darum ist es faul, das Beharren auf Aussageverweigerung der Angeklagten als Feigheit zu bezeichnen. Dieses Recht hat für alle zu gelten, eine liberale Auffassung, die im Zeitgeist der Erstarkung autoritärer Positionen zur Errettung von sogenannt westlichen Werten – Stichwort «der Terrorist» ausserhalb des Rechts – einen immer schwereren Stand hat, zugegeben. Aber es gibt keine Menschen ausserhalb der Gesellschaft, das ist eine ideologische Behauptung. Und wenn Stummsein bei uns feige ist, dann doch viel eher im Rückzug in die Privatsphäre und der dazugehörigen Sublimation von Frust an Stammtischen oder in Gemeinschaftsgärten. Das ist, so schwer es zuzugeben fällt, auch Polizist*innen nicht vorzuwerfen.

Und wer meint, bei diesem Urteil sei mal wieder ein wohlstandsverwahrloster Haufen mit Samthandschuhen angegangen worden, der oder die vergegenwärtige sich der Tatsache, dass progressive Positionen schon immer meist von privilegierter Seite her angestossen wurden. Rosa Luxemburg war Bildungsbürgerin, Europa vor den Weltkriegen ein Horizont, weltoffen und vom Vernunftglauben beflügelt. Von dieser Dialektik berichtet der momentane politische Diskurs. Wohlstandsverwahrlosung rührt von Positionen her, die sich trotz Privilegien Geschichts- und Theorievergessenheit gönnen. Sicher nicht von Aktivist*innen, die auf die Dynamik einer sich verschärfenden Wohnsituation in den Städten aufmerksam macht und dafür einen persönlichen Preis zahlt. Der gewaltlose Mensch weilt in ferner Zukunft. Trotzdem lässts sich bequemer sonnen im Pazifismus. Alle, die froh darum sind, dass Bern nazifrei ist beispielsweise, die linkste Stadt der Schweiz – wenige mussten sich mit dem widerlichsten Preis davon auseinanderzusetzen. Die Prügel, die es dafür auch gesetzt hat.

Richterin Bettina Bochsler hat in diesem Urteil ihre Position klargemacht, hat ihren Habermas gelesen, im Sinne einer diskursiven Öffentlichkeit, die unter der Prämisse von Kontinuität vorschreiten will. Entgegen allen Apokalyptiker*innen, die sich Besserung nur nach einer Revolution, dem Abriss oder dem Weltenbrand denken können. Und damit aus ihrer Warte einiges an Verantwortung schuldig bleiben. Dazu setzt sie die gegebenen rechtstaatlichen Mittel ein, das ist ihre Freiheit. Das Strafmass mag vielen Bürgerlichen nicht hoch genug ausgefallen sein, dabei scheinen diese aber überhört zu haben, was es eigentlich bedeutet. Es ist eine elterliche Handreichung, wider der Eskalation, ihre Autorität hat Bettina dazu gebraucht, eine persönliche Einladung auszustellen, nach dem Sturm und Drang in gehegte Sphären einzutreten. Es ist ein Anstoss zur Staatstreue.