Der Dirigent und der Despot

Selbst wenn die aktuellen Solidaritätsbekundungen aus der Hochkultursphäre in bester Absicht passieren: Die klassische Musik war schon immer Repräsentationsinstrument der Mächtigen.

Die neobarocke Fassade des Berner Stadttheaters leuchtet abends in den Farben blau und gelb, wie dieser Tage die Frontseiten etlicher Kulturhäuser. In den Sozialen Medien, auf Hauswänden und in Zeitungen ist die ukrainische Flagge omnipräsent, während in Opernhäusern und Konzertsälen weltweit die ukrainische Hymne rauf und runter gespielt wird. Die Flagge als Kennzeichen nationalstaatlicher Identität wird zu einem Symbol der Solidarität umgedeutet, eine Chiffre für die Menschen in der Ukraine, ein pars pro toto für all jene Menschen, denen durch die menschenverachtende Expansionspolitik des russischen Regimes entsetzliches Leid widerfährt. Die Embleme des Nationalstaats werden zum ikonographischen Mahnmal gegen den Krieg; merkwürdige Welt.

Die Bühnen Bern bieten seit wenigen Wochen geflüchteten Menschen freien Eintritt zu den Vorstellungen und Konzerten in oben erwähntem Stadttheater und ihren anderen Spielstätten an. Eine schöne Geste: Warum erst jetzt? Es gibt genügend Beispiele von Kulturinstitutionen, die schon seit geraumer Zeit Angebote für geflüchtete Menschen lanciert haben, unabhängig von deren Herkunft oder Asylstatus. Wie die blaugelben Posts und Dekors hinterlassen die Solidaritätsbekundungen aus der Hochkultursphäre einen schalen Beigeschmack und das Bedürfnis, etwas Ordnung in dieses diffuse Gefühl zu bringen.

Werfen wir doch einen Blick auf die Reaktionen aus der notorisch apolitischen Klassikwelt auf einen Krieg, der sich aus zentraleuropäischer Perspektive nicht so leicht ignorieren und ausblenden lässt wie andere Kriege und bewaffnete Konflikte dieser Welt. Naheliegend scheint da die Idee, etwas von dem immens vielen Geld, das in diesem Business umherschwirrt, für den karitativen Zweck zu mobilisieren. Das Berner Symphonieorchester spielt Beethovens 9. Sinfonie, dieses mythische Schlüsselwerk des musikalischen Humanismus, im ausverkauften Kulturcasino – die Burgergemeinde Bern verdoppelt den eingespielten Betrag. Kleinere und grössere Benefizkonzerte für die Ukraine spriessen gerade überall aus dem Boden der Konzertlandschaft. Nebst den zweifellos guten Intentionen und der Hoffnung, mit den gesammelten Spenden das Leiden einzelner Menschen lindern zu können, scheinen diese Veranstaltungen auch einem therapeutischen Zweck zu dienen. Sie vermitteln Künstler:innen und Publikum das Gefühl, zumindest ein Minimum an Handlungsspielraum zu haben im Angesicht der Ohnmacht, die uns jeden Tag bei der Zeitungslektüre befällt. Auch das scheint legitim.

Propagandastunt für Putin

In den ersten Tagen des Kriegs kommt es zu einigen Übersprunghandlungen im Klassikbetrieb. Russischstämmige Musiker:innen werden von Konzertveranstalter:innen wie der Kartause Ittingen oder internationalen Wettbewerben wie der Dublin International Piano Competition ausgeladen. Einige rudern schnell zurück, die Kartause Ittingen entschuldigt sich etwa bei der russischen Cellistin Anastasia Kobekina, zumal sich diese schon zuvor deutlich vom Krieg distanziert hatte. Wohlüberlegter handelt das Theater Biel-Solothurn (TOBS), das seine aufwendige Produktion der Tschaikowski-Oper «Mazeppa» kurz nach der Premiere absetzt. Eine romantische Oper über die Niederschlagung ukrainischer Aufständischer durch das russische Zarenreich zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die dieses historische Ereignis als Folie für eine klassische Intrigenhandlung nutzt, wirkt im Angesicht der aktuellen Weltlage deplatziert. Ferner sei sie auch aus Rücksicht auf ukrainische Musiker:innen im Orchester abgesetzt worden, liess das TOBS verlauten. Diese Einzelfälle als antirussischen Kulturkampf des Westens zu framen – wie dies der Kreml darzustellen versuchte – wirkt dabei weitaus absurder als gewisse unüberlegte Schnellschüsse hiesiger Kulturhäuser.

Am anderen Ende des hierarchischen Spektrums stehen Persönlichkeiten wie der Dirigent und Putin-Intimus Valery Gergiev und die russische Star-Sopranistin Anna Netrebko. Letztere gehört(e) ebenfalls zu Putins Künstler:innenzirkel, hatte sich in der Vergangenheit mit Symbolen des russischen Ultranationalismus abbilden lassen und war auch als Förderin des von einem österreichischen Architekturbüro entworfenen Opernhaus in Sewastopol auf der besetzten Krim in Erscheinung getreten. Anfang März wurde sie vom Zürcher Opernhaus und diversen anderen grossen Häusern ausgeladen. In der Zwischenzeit hat sich Netrebko öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen – über die Motive lässt sich nur spekulieren – und verliert dadurch auch ihre Engagements in Russland. Ob diese Ausnahmesängerin je wieder auf die grossen Bühnen zurückkehrt, wird sich weisen – die Verlockung wird jedoch gross sein, schliesslich gilt sie weltweit als Garantin für volle Säle.

Valery Gergiev verlor in den letzten Wochen unter anderem seine Engagements beim Lucerne Festival, dem Verbier Festival und seine Anstellung als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, in Ermangelung einer ohnehin nicht zu erwartenden Distanzierung vom Krieg. Im Falle Gergiev stellt sich wiederum die Frage: Warum erst jetzt? Gergievs homophobe Äusserungen waren längst bekannt, seine Haltung zu Putin auch, gehört er doch zum engeren Umfeld des Despoten. Und er verkörpert wie kaum ein Zeitgenosse das alte Bild des autoritären Dirigenten, der sich stets vorbehält, Musiker:innen im Orchester bis zur letzten Minute noch umzubesetzen, wenn sie ihm nicht passen. Als er 2015 seine Stelle in München antrat, hatte er sich bereits öffentlich für die Besetzung der Krim ausgesprochen. Im Jahr darauf dirigierte er das Moskauer Mariinsky-Orchester in den Ruinen von Palmyra, ein Propagandastunt für Putins militärische Intervention in Syrien an der Seite Bashar al-Assads. Orchester, Festivals und Kulturfunktionär*innen wussten das, nur hat das damals noch keine:n gestört.

Klassenkampf zu Corporate Cüpli

Dass sich die Klassikwelt so schwer damit tut, auf Distanz zu despotischen Regimes, ihren Gefolgsleuten und Business-Seilschaften zu gehen, liegt in ihrer Natur und Historie. Die (westliche) klassische Musik fungierte in ihrer Geschichte stets als Repräsentationsinstrument für den Machtapparat: Erst diente sie der Kirche und den Höfen, im Zuge der bürgerlichen Revolutionen dann zunehmend dem Grosskapital. Hinzu kommt, dass Opernaufführungen und Orchesterkonzerte genuin kostspielig sind und so in gewissem Masse den Finanzflüssen folgen müssen. Dieser Problematik begegnet die Klassikwelt mit einer fast krankhaften Trennung der politisch-ökonomischen Verstrickungen ihrer Produktionsbedingungen vom ästhetischen Gehalt der Kunstform. Der Diskurs um die «absolute Musik», die von allen aussermusikalischen Konnotationen bereinigt ist, beginnt im 19. Jahrhundert zeitgleich mit der Entstehung des bürgerlichen Konzertwesens, dessen tempelartigen Spielstätten und Aufführungsritualen. Beides wirkt bis in die Jetztzeit fort und nimmt zuweilen groteske Formen an. Wer sich im Rahmen des Lucerne Festival im KKL ein Orchesterwerk des grossen linken Avantgarde-Komponisten Luigi Nono anhören möchte, muss erst die Werbebanner von Credit Suisse, Roche und Zürich Versicherung passieren. Im Konzertsaal Klassenkampf, im Foyer Corporate Cüpli. Und wie viel Oligarch:innengelder in unseren Klassiketablissements stecken, möchte wohl auch lieber niemand so genau wissen.

Im Kontext dieser Betriebsrealität wirken die Entlassungen Gergievs und Netrebkos oder die unzähligen Ukraine-Benefizkonzerte nicht einmal wie ein Versuch, sich vom historischen schlechten Gewissen reinzuwaschen. Sondern wie ein plötzlich aufblitzendes, nur scheinbar politisches Bewusstsein, das über diese Schnellschüsse wohl kaum hinausgehen wird. Die nötige vertiefte Auseinandersetzung mit den finanziellen und ideologischen Verstrickungen der Branche und die Rolle der klassischen Musik als Repräsentatorin der Macht bleiben einmal mehr unhinterfragt.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Maiausgabe des KSB Kulturmagazins.