Im Berg verlochet

Nach dem grossen Knall: Was eine Ausstellung über Heimat sagen kann. Und was ein Bergdorf über die Schweiz erzählt. Zu Besuch in Mitholz, Chiffre für gute Vorsätze, behördliche Verdrängung und militärische Fantasien.

Es ist dann gar nicht so ein Loch. Der Bahnhof Blausee-Mitholz liegt etwas erhöht oberhalb der Strasse, links und rechts nah und hoch der Berg. Die Sonne greift durchs Tal, ein ehrliches Licht, auf die Felswände, Matten, Bauernhäuser und eine Eisenbahnschlaufe – die Züge holen hier noch einmal Luft vor der stotzigen Nordrampe Richtung 1913 eröffnetem Lötschbergtunnel oben in Kandersteg. Und seit am Tunnel 1946 der Autoverlad ins Wallis begann, pumpt eine endlose Blechlawine über die Hauptstrasse quer durch Mitholz. Es ist eine radikale Schweiz: die Enge der Landschaft, die Bewegung des Transits, der Bogen von Tradition und Technik. Die Chalets mit viel Umschwung jeweils, die Nachbarn sind weit weg: «Besser bekommst dus eigentlich nicht», das sagt uns eine Spaziergängerin. Sie will auf keinen Fall weg hier. Und spätestens, wenn man an dieser Hauptstrasse das Balmhorn, letzte Beiz von Mitholz, betritt, brennen im Kopfkino vor lauter Überblendungen die Heimatfilmmotive aus.

Geht man an einem Donnerstag nach dem Mittagessen durch diesen Ort, dauert es kaum fünf Minuten, bis man ins Gespräch kommt. Thema Nummer eins: die baldige Räumung des Munitionslagers im Berg. Erst hiess es, alle Mitholzer:innen müssten weg, jetzt sind es noch 51, die in den nächsten Jahren, wann genau ist unklar, ihre Sachen packen müssen. Gleich über die Strasse beim kleinen Bahnhof ein hübsches Haus, davor haben sich vier Frauen verschiedenen Alters versammelt, sie, die da wohnt, eine befreundete Bäuerin zu Besuch und zwei Spaziergängerinnen mit Hund und Kinderwagen. «Jetzt warten wir erst einmal ab», sagt die Bäuerin, ja nichts überstürzen – wie jene, die schon gegangen waren, als noch einmal umgezont und damit klar wurde, dass sie ihr Haus gar nicht hätten verlassen müssen. Keine der Frauen will weg, mit der Situation gehen sie unterschiedlich um. Während die Bäuerin sich wohl eher raustragen lassen wird, als «freiwillig» zu gehen, hat eine der Spaziergängerinnen mit ihrem Mann schon ein Haus in Kandersteg gekauft. Sie freut sich auch darauf. Es ist ein routiniertes Gespräch, aufgeräumt aufgeregt. Einig ist man sich vor allem in einem Punkt, sogar mit VBS-Chefin Viola Amherd: Das ist die letzte Generation, die sich mit diesem Unglück, verlochet im Berg, herumschlagen soll. Fertig jetzt.

Über Heimat nachdenken: Das Berner Alpine Museum zeigt bis im Juni 2024 die partizipative Ausstellung «Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» und schliesst dabei apokalyptischen Zeitgeist mit Verantwortungsdenken kurz. Das Museum tritt aus den eigenen Wänden und geht auf Tuchfühlung – die Ausstellung ist im Austausch mit Menschen aus Mitholz entstanden, von denen einige ihr Daheim verlassen werden müssen. Hätte man auch mit ihnen geredet, wohnten sie nicht am Ort eines latenten Staatsversagens, auf Altlasten und unter ständiger Beobachtung?

Vergessen, was man verdrängt hat

Der Staat hat sich hier gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ganz seinem Réduit-Ideal verfallen, ein Monument konzentrierter Militarisierung aus dem Stein gespitzt: sechs Kammern zu 150 Meter Länge als Depot für Munition und Sprengstoff in der Fluh über Mitholz. Ein megalomanischer Akt der Naturbekämpfung bei synchronlaufender Beschwörung. «Wer Löcher in ein Gebirge bohrt, der entweiht es, würde der Naturfreund sagen. Aber politisch sieht das anders aus: Die Erschliessung der Alpen durch den Verkehr und die Armee steigert ihre Symbolkraft noch», schreibt der Historiker Daniel Di Falco dazu. Sein Text «Warum glaubt ein Land an Berge?» ist die grosse Freude in der Begleitpublikation zur Ausstellung. Der Berg – zur nationalen Identität als Burg erhoben – taugt dazu nur bezwungen, ausgehöhlt und mit Gewaltpotenzial stabilisiert. Kolonisiert, kann man auch sagen. Und kaum drei Jahre später fliegt einem das beschworene Symbol dann um die Ohren, Ursache nicht abschliessend geklärt. Die verjagte Bergburg und der Metallregen daraus kostete in der Nacht vom 19. Dezember 1947 neun Menschen das Leben, das Dorf wurde zu weiten Teilen zerstört. Heimat als verdichtete Wehrhaftigkeit – in Mitholz ist auch diese Idee explodiert. Und geht man heute bis zum Stollen, drückt noch immer eine Wand von Kälte hinaus, als wehte ein elender Wind herbei aus der Zeit der Geistigen Landesverteidigung.

Nach der Katastrophe kamen die Zeitungen, dann die Glückskette. Der Staat bereinigte die Oberfläche, versenkte Handgranaten im Thunersee, 1949 ein Strafverfahren ohne Schuldspruch. Die Aufarbeitung suppte danach in Mitleidsbekundungen aus, natürlich kam General Guisan vorbei. Es wurde aufgebaut, die neu hochgezogenen Chalets mit Geleitsprüchen versehen: «Ein Schrecken lief durchs ganze Land / Als unser Dorf zerstört, verbrannt / Jetzt ist die Freude eingekehrt / Das uns ein neues Ist beschert.» Heute sind zumindest an einem Hof weniger konkordante Worte aufgemacht: «Wir sind keine Bomben. Wir bleiben.» hängt es da pink auf weiss vom Transparent im Wind. Die Beizerin im «Balmhorn» sagt: «Auf gut Deutsch: Die Leute kommen sich verarscht vor.»

«Es ist eine logistisch organisierte Verantwortungslosigkeit, die dazu geführt hat, dass 1949 nicht weiter geräumt wurde. Man hat sich einfach nicht mehr dafür interessiert. Etwas wurde offiziell bereinigt, aber nicht umgesetzt», wird Historiker Jakob Tanner im Rahmen der Ausstellung zitiert. «Die Gefahr, die von der verschütteten Munition ausgeht, hat man verdrängt. Und später hat man vergessen, was man verdrängt hat.» Bis jetzt sitzen noch rund 3500 Bruttotonnen Munition in den Stollen fest. Davon mehrere hundert Tonnen reiner Sprengstoff – etwa so viel, wie die Explosion von 1947, die damals grösste nicht-nukleare der Welt, ausgelöst hatte. Und das muss jetzt weg.

Noch da

Die Ausstellung im Alpinen Museum ist sorgfältig recherchiert, informativ, zugänglich aufgemacht. Und doch beschleicht einen ein ungutes Gefühl, besonders da, wo der einem Stollen nachempfundene Infoparcours mit seinen exakten Lesetafeln und Zahlenhaufen in einen offenen Raum mündet, an der Wand ein Fragment von Ferdinand Hodlers «Aufstieg und Absturz». In der Mitte sind Lautsprecher im Kreis angeordnet, daraus tönt ein «Abschiedslied» für Mitholz, gesungen von einem Chor. «Läb wohl Mitholz, du bisch ä Tiil va öös.» Dann der gemeinsam mit Teilen der Dorfbevölkerung gestaltete Raum, wo der Kirchgemeindewind um den Erinnerungsbaum aus Sperrholz weht. Es gibt eine Hörstation mit Bienensummen und Kanderrauschen, aus urnenhaften Töpfen sollen Geruchserinnerungen Affekte auslösen. Zumindest die frisch gemähte Wiese riecht allerdings eher nach fermentierten Chupa Chups. Wo die Tabellen aufhören, wird es ausstellungstechnisch eigentlich erst richtig interessant – nach der heimatlich neutralen Disziplin der Zahlen im ersten Teil kommt hier aber bloss ebenso heimatliche Sentimentalität, dass es jedes schöne Flimmern ersticken muss.

Man hat die Mitholzer:innen ernst genommen, ihre Sorgen nicht banalisiert. Gleichzeitig wirkt der partizipative Ansatz alibihaft, gerade durch seine programmatische Hervorhebung bereits im Ausstellungstext. Weil er Erwartungen nach Nähe schürt und dann durch Unbeholfenheit Distanz schafft. Die Leute selber reden lassen, das ist nicht so einfach. Im Museum fehlt der Idee das passende Werkzeug; möglich, dass es sich noch ergibt. Die Ausstellung gibt dem Problem viel Zeit, bis im Juni 2024 kann hier der Begegnungsraum auch noch entstehen. Denkt man an den allgemeinen Wunsch, jetzt endlich nichts mehr von dieser Misere an nachfolgende Generationen weitervermachen zu wollen, führt wohl kein Weg an den Implikationen guter Vorsätze vorbei. Mit der Dauer ist der Anfang gemacht.

«Eigentlich müsste das Transparent im Museum hängen: Wir bleiben», sagt die Bäuerin in Mitholz. Hier ist vom Sentimentalen wenig zu spüren, auch kaum Bitterkeit – es ist auch noch lange nichts abgeschlossen. Die Ausstellung in Bern komme ihr vor wie eine Beerdigung für Leute, die noch gar nicht tot sind. «Wir sind ja noch da.» Der Widerstand habe kaum Platz im Museum, es wirke nun, als hätten sich hier oben alle mit der Situation abgefunden. Man komme sich, sagt eine der vier Frauen, nun ja – etwas ausgestellt vor. Und eben, als sei hier oben alles abgemacht, feierlich begraben, bevor ein nächstes Kapitel beginnt. Aber es ist nichts abgeschlossen, weder die Pläne des VBS noch der Widerstand, und dann sind sowieso alle anderer Meinung. Die Bäuerin sagt: «Wissen Sie, es gibt auch Leute, die freuen sich, hier wegzukommen.»

Und die anderen? Im schlimmsten Fall könne schon enteignet werden, hätten die vom VBS irgendwann herausgedruckst, meint die Bäuerin – ein schwieriger Gedanke in einem Land, in dem Eigentum und das Recht, es ohne Zutun des Staates an nachfolgende Generationen weiterzugeben, bis aufs Blut verteidigt wird. In Mitholz kommt es einem anderen Schweizer Heiligtum in die Quere: Kaum etwas, das sich das Militär nicht leisten darf. Die paar echten, nicht symbolischen Bergbewohner:innen müssen dann eben daran glauben.

Die Ausstellung «Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz» im Alpinen Museum läuft noch bis am 30. Juni 2024. Dieser Text erschien zuerst in gedruckten Märzheft des KSB Kulturmagazins.