Nox Orae Nihilo

Die Hälfte der Automaten am Bahnhof sind kaputt. Wo kommt man denn dahin, innerhalb von fünf Minuten Velo abstellen, Bier holen und Billet lösen. Ich verdribble mich auf dem Touchscreen, Schweiss läuft mir hinten die Rinne runter, die Kiste erbarmt sich schliesslich und druckt. Dann der Sprint Richtung Gleis 2, ich erreiche den IR15 Richtung Genf, seine Guillotinen halten noch im Anschlag, also Einsteigen, Absitzen, Ausschnaufen – Husten: Die Einladung kam aus dem Westen, ich fahr ans Nox Orae.

Das Nox in seiner zehnten Ausführung schon, an den Gestaden des Lémans in Vevey, ein Festival wie es sein müsste: Non-profit organisiert, dafür Löhne ja und ein scharfgezieltes Programm – Verdikt Überzeugungstäterschaft. Programmatorisch im Weitwinkel zwischen Tramadolgetränktem und Amphetamingeladenem, internationale Headliners stehen da egalitär aufgeführt neben lokalen Frischlingen – eine runde Sache, dem Ungeschliffenen verschrieben.

Ich will da raus für Sun Cousto, den zwei welschen Frauen die mittels Screemo Jesus die Wassertauglichkeit absprechen, gerne aber auch über unwuchtigen Melodien fisteln. Und dabei dem Ennui vom Versprechen der Verschwendung bis hin zur daraus resultierenden Angst vor dem absoluten Garnichts alles abringen. Und für Deerhoof, weil das Deerhoof ist.

Der IR15 donnert gerade aus dem Bergloch und zu meiner Linken erscheint ein Claude Monet als hätte man in der Dunkelkammer ein Stillleben aufgeblitzt. Der See als schlieriger Terpentinfladen unter einer gleichsam verschmierten Grünpalette von Weingärten. Gestanzte Wolkenstrukturen über Lausanne in scheinheiligem Gelb gehalten, übertriebene Streiflichter überfluten die Stadt. Ich fahre weiter und steige eine halbe Stunde später auf ein rostbraunes Perron, suche die Rue du Simplon, um darauf Richtung Tour-de-Peilz zum Festivalgelände zu gelangen. Die Scheissstrasse gibt es nicht. Ich konsultiere die Karte – die Scheissstrasse gibt es nicht.

Auf der Stadtkarte steht Nyon. Fuck. Fuckfuck, anderes Festival: Paléo, das ist schon vorbei hier – the fuck. Mich ergreift ein Lachen, Zigarette rauchen und die Strasse runterschlendern. Schönes Dorf. Ich setz mich auf weite Treppenstufen aus Waschbeton vor einer katholischen Kirche und lese Virginie Despentes King Kong Theorie, das ich in der Gesässtasche führe. Davon, dass der männliche Wunsch nach Verführung ein Abbild der strukturell zugewiesenen Frauenrolle darstellt: als Kurtisane, welche dem Mann dadurch seine brüchige Virilität bestätigen muss. Ich muss wieder Lachen beim Gedanken daran, wie hündisch einen schon ein dickaufgetragener Lippenstift werden lässt und dem, dass ich mich gerade selbst verführt habe: in die falsche Stadt.

Aus der Kirche klingt ein Engelschor. Sirenengesang und ich bin nicht gefesselt, also betrete ich den Tempel. Überraschend protestantisch gehalten das Ganze. Stumpfe Holzbänke in hellem Braun unter halbdurchsichtig gewordenem Hochglanzlack, von sitzenden Ärschen über Jahrzehnte. Kein Barock, gesucht modern, beschnitten irgendwie – Schweiz. Vorne, unter dem Kreuz, steht ein gemischter Chor in Mittelstand-Aufmachung: karierte kurzärmelige Hemden, weisse Stoffhosen bei den Mädels, Dreiviertelhosen den Herren, Birkenstocksandalen unisex. Sie singen Deutsch: «Dass sie sich nicht erbarmt, dass sie sich nicht erbarmt, dasssss sieeee sich nicht erbaaaarmt – sich nicht erbaaaaarmt», «der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mich verlaaaassen» und irgendetwas von «kann auch ein Weib …». Weiter versteh ich nicht, die Zeilen verschwimmen im Hall und dem dumpfen Luftdruck aus den Orgelpfeifen.

Läuterung, jetzt bin ich mal wieder am Weinen, als einziger Zuschauer auf den Rängen, die SängerInnen schauen ganz karitativ und der dicke, von einem vollgeschwitzten Leinenhemd behangene Dirigent kommt zu mir, sagt kein Wort und hält mir dafür eine Hand auf die Schulter. Ich trinke mein Dosenbier leer und verlass den Laden.

Vor der Kirche trinken Amerikanische Touristen Bourbon – Four Roses. Ich zieh mir noch ein Efes in der Dönerbude, gelbgrüner Wimpel mit rotem Stern hängt über dem Kühlschrank. Dann zurück an den Bahnhof. Der IR 15 steht auf Gleis 2, bereit mich nachhausezuschaukeln, ungleichmässig kalt, die Hälfte der Klimaanlagen sind kaputt. Wo kommt man denn da hin.