Partizip Blues

«Niemand hat die Absicht, den Parkplatz wiederherzustellen.»
(Blaise Kropf, Präsidialdirektion d. Stadt Bern, 2020)

«Wir können nicht schlafen.»
(Klägergemeinschaft Altenberg im Kollektiv, 2020)

«Natürlich geht es um Lärm und natürlich geht es eigentlich um die Reitschule.»
(Kevin Liechti, Koordinator PlatzKultur, 2020)

Irgendwann im April stürzt ein Auto von der Kornhausbrücke, detoniert ganz still im Altenberg. Sein Motor ist schon lange erstickt am Gas der totemhaften Silos, kein Knall. Ein künstlerischer Unfall, der die noch spärlichen Aareschwimmer*innen an die verschenkte Freiheit auf der Schützenmatte mahnt und an dem ein paar Wochen vorbeigegangen werden darf. Die Schütz hinterlässt ihre Abdrücke in der ganzen Stadt. Sie ist vielleicht selbst ein ballistischer Abdruck all der verschossenen Ansprüche an diesen Ort. Im August 2020 schwimmt ganz Bern in der Aare gegen die Langeweile an – und der Platz zwischen Bollwerk und Reitschule scheint menschenleer, vergessen, still oder tot.

Schützenmatte, wer bist du? Diese Frage ist ein Blues. Die blue note erwischen, diesen seltsamen Punkt auf der Tonleiter, genau in der Mitte zwischen Hoffnung und Defätismus, zwischen Aufgeben und Weitermachen. Ein Ton, der sich auf den Instrumenten der Berichterstattung, der Politik, der beratenden Expert*innen und der Polizei nur schwer spielen lässt. Blues bleibt beteiligt und betroffen. Dem Blues ist die Wiederholung wichtig.

Schützenmatte, wer bist du?

Spätestens als Vorplatz der 1897 errichteten neuen Reitschule ist die Schützenmatte erklärterweise als Ort volkstümlicher Feste ausserhalb der Altstadt gedacht. Dort hatte das Stadttheater die alte Reitschule verdrängt und gebot dem gehobenen Bürgertum noble Atmosphäre unter seinesgleichen. Die Schützenmatte ist in dieser Konzeption eine Geste urbaner Hochkonjunktur an das gemeine Volk, eine Idee aus dem goldenen Fin de Siècle; Zirkus, Messen, Turnfeste entlang der Moden der Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerät ihre Karriere ins Stocken. Die Architektur der Reitschule im historischen Schlösschenstil zeigt ohnehin schon viel zu lange rückwärts; das folgende Wirtschaftswunder bringt vor allem Beamtentum, Blech und Beton. Die Reitschule wird 1964 zum Abbruchobjekt erklärt. Der einstige Glanz der Schützenmatte hat sich da bereits unter Zentnern von Asphalt verloren.

Degradiert zum Parkplatz wird der Ort zum Blinden Flecken dieser Stadt. Ab und an revoltieren Bauern, hie und da aufgescheuchte Jurassier – die Troubadoure singen. Dann knallts in Zürich und auch Bern kokelt an, bewegte Achtziger, der Zucker kommt und es wird geschossen, was die Adern halten. Die Reitschule wird besetzt und die Polizei stürmt einen Park. Furcht ihn um, ist stolz darauf, säubert im Hochmut auch gleich noch die Schanzen und Gassen – und im Park spriesst plötzlich Krokus.

Die Szene verlagert sich, kondensiert sich, setzt sich fest auf dieser Schützenmatte. Die Alternativen und die Alternativlosen: Politische, Kulturelle, Papierlose, Junkies, Dealer, Diebe. Das Kommando der Drogenpolizei heisst jetzt Krokus.

Schützenmatte, wer bist du?

«Die Schützenmatte soll mit einer Busstation und einem Kiosk aufgewertet werden.»
(Regula Rytz, Politikerin, im Thuner Tagblatt, 2012)

«Dieser Platz gehört von einem Einkaufszentrum überbaut.»
(Name unbekannt, Passantin, 2020)

«Ein Schiessplatz für Bogen, Armbrüste und später Handfeuerwaffen.»
(Hanspeter Rebsamen, Kunsthistoriker, in einem Gutachten, 1987)

Ein Parkplatz, aus der Zeit gefallen. 2009 werden unter öffentlichem Druck Motionen eingereicht, das Asphaltgeviert soll endlich umgenutzt werden, fruchtbar gemacht – begrünt, oder mindestens bespasst. Besorgte Töne: Was denn mit den Gewerblerinnen und den Carfahrern passiere, wenn die Parkplätze verschwinden, fragen die Gewerbler und die Carfahrerinnen, andere stellvertretend, denn Parkieren ist geordnete Freiheit. Plötzlich sind es nur noch zwei Drittel Parkplatz, die aus der Zeit gefallen sind, dafür darf geträumt werden: Wir brauchen einen partizipativen Prozess. Alle sollen mitmachen. Kultur muss auf den Platz und alle Bedürfnisse gehören gehört. Das Kredo sitzt. Die Proseccokorken knallen, Bläschen platzen bald: Was heisst Mitmachen für alle in der Stadt? Und woher kommt diese Stadt?

Die bürgerliche Stadt hat sich aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus (…) als closed shop verstanden. (…) Die Bürger der Stadt entscheiden, wer die Grenze passieren darf und wer nicht. Das geht auch ohne echte Stadttore – das Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge beispielsweise hat virtuelle Stadttore errichtet,

schreibt der deutsche Philosoph Niels Boeing in «Von Wegen», seinen Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft.

Aber Partizipation klingt gut: Nach Berlin oder so, nach Dialog und Neuanfang.

Eine Phase Null der sogenannten Prozessarchitektur geht diesem Planungsprozess voraus: Ergebnisoffen, innovativ, beteiligend, bedürfnisorientiert, innovativ – so tritt das Begleitgremium Schützenmatte 2014 offiziell in Aktion. Der Stadtrat hat die Kredite dazu fast einhellig gesprochen. Bis weit nach rechts wünschen sich die Politiker*innen, dass es endlich vorwärts geht. Wieder Sekt im Glas, Apéro riche und gebügelte Hemdlein – die frivole Stimmung der ersten gemachten Schritte, ein früher Erfolg. Begleitend dazu gibt es Vorträge von Referent*innen aus echten Metropolen.

Der Ton im ersten Ergebnisbericht des Planungsprozesses lässt weiter auf konkordante Heiterkeit schliessen. Man spricht von der Schützenmatte als Treffpunkt, Freiraum, städtischem Biotop, Ausgehmeile; der Begriff Unort landet nur über die Bande gespielt im Protokoll. Böse Geister traut sich niemand zu wecken. Wenn man nur schnell genug losmacht, kann man sie vielleicht sogar abhängen.

Aber am Kopf der Lorrainebrücke steht «Ghost Town» gesprüht.

Die Geister bleiben vorerst still. 2015 wird das Neustadt-Lab erfunden, saisonaler Betrieb, drei Spätsommer lang. Ab 2018 traut sich die Stadt, eine ganzjährige Bespielung der Schützenmatte anzusiedeln, das Projekt PlatzKultur formiert sich. Dabei soll direkt von der Dynamik auf dem Platz gelernt werden, «lernende Planung» empfehlen auch die Expert*innen bei den Stadtbauten. Aber verdrängte Realitäten haben ihre eigene Dynamik, planen lässt sich damit kaum.

Schützenmatte, wer bist du?

«Die Polizei scheint kein wirkliches Interesse an einem konstruktiven Miteinander zu haben, viel mehr beharrt sie darauf, das Betäubungsmittelgesetz umzusetzen, wie es von der Politik in diesem Perimeter als Schwerpunkt gefordert wird.»
(Christoph «Pumba» Ris, Koordinator PlatzKultur, 2020)

«Das greift zu kurz, zumal die Bekämpfung des Betäubungsmittelhandels in diesem Perimeter auch ein politischer Schwerpunkt und Auftrag der Stadt Bern an uns ist.»
(Manuel Willi, Chef Regionalpolizei Bern, in einem Mail, 2020)

«Why does police always come for me?»
(Name unbekannt, Beruf unbekannt, 2017)

Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Schützenmatte in einer leichten Senke liegt. Die vergnügliche Stadt strömt an, auf den Rädern, zu Fuss, über die Brücke oder aus den Gassen und gleitet in das Becken hinab. Das Umland mischt sich genauso darein wie die prekäre Stadt, der Bahnhof spuckt sie am Rand des Schüttsteins aus. Im Coop kostet das Bier 1.20, am Wochenende sind nur die Dosen der hintersten Reihen im Regal ausreichend gekühlt. Ein paar wenige Ankömmlinge bleiben beim Goa-Treff am Haupteingang hängen, aber die meisten biegen zum Bollwerk ab – sie sind auf der Suche nach etwas und diese Suchenden verbindet das topografisch widersprüchliche Gefühl, da hoch zu müssen, rauf auf die Schützenmatt, das Gefühl eines leichten und unsichtbaren, aber spürbaren Zustiegs. So ist das Tag und Nacht und manchmal dünnen die Wanderaktivitäten, da runter, da rauf, erst am Montagmorgen für ein paar stille Stunden gänzlich aus.

Irgendwann im Oktober 2019 war es eine verfluchte Samstagnacht, in der sich die Ereignisse so exemplarisch überschlugen, die die Milieus, Szenen und Schichten an- und durcheinander geraten liess, dass sich eine ausschnitthafte Aufzeichnung lohnen könnte, das Chaos um die Schützenmatte in seiner Kumulierung zu beschreiben.

In dieser Herbstnacht wassern die Piraten auf dem Vorplatz ihre illegalen Bars ein, es ist gegen zehn, an der verrückten Uhr vor der Halle lässt sich das nicht ablesen. Das Bier hat Lufttemperatur neun Grad und kostet vier Franken, die je nach Theke der Schadensdeckung politischer Repression zugute kommen oder der Finanzierung eines eher privaten Lebensstils. Unter der Eisenbahnbrücke heisst es immer neinsagen und immer weiterlaufen, ausser man sucht Stress oder eine Substanz, die davon ablenkt. Auf der Schütz: Das grosse Zirkuszelt, eine Containerburg trutzt daneben wie vom Himmel gefallen. Über allem prangt ein ausgedienter Linienbus als Raclette-Restaurant, in dessen Schlagschatten junge Männer Körbe werfen. Zwischen Harlem und dem Obergoms sind es hier fünf Meter Höhenunterschied. Der Soundtrack der Nacht: An günstigen Stellen vermischen sich die vereinigten Barbeschallungen zu einer Art definitiven Weltmusik des Grauens.

Irgendwo im sinistren Dazwischen dieser Topographie wird in jener Samstagnacht eine Frau überfallen. Der Trick einer Diebesbande bringt ihr Portemonnaie zum Verschwinden. Einer der Dealer unter der Brücke hat das Delikt beobachtet und mischt sich ein, im Gerangel kann er die streitige Brieftasche ergattern und ihrer Besitzerin zurückgeben. Die Heldentat kommt ihn teuer zu stehen, sie wird von den aufgescheuchten Dieben mit dem Klappmesser vergolten und der anschliessende Sanitätseinsatz von der Polizei begleitet. Unter sauren Zurufen fliegen Flaschen, oben an der Neubrückstrasse werden Wände angemalt, kleinere Scharmützel entzündet. Politische Aktionen vermischen sich mit der Krawalllust einiger Verirrter und bis das Dispositiv der unbeliebten Kantonspolizei, nun um gutgepolsterte Grenadiere erweitert, die kleine Strassenschlacht perfekt macht, ist die Stimmung hitzköpfig und bitter. Zwischen den Neubrückstrassen ist man schon seit dem Spätsommer besonders schlecht auf die Staatsgewalt zu sprechen, ein als grob unverhältnismässig kritisierter Einsatz im Restaurant Sous Le Pont eine Woche zuvor verspannt das Verhältnis zwischen Behörden und Reitschüler*innen zusätzlich. Auch die anhaltende Klauerei machen dem Haus, seinem Vorplatz und der Zwischennutzung auf der Schütz Sorgenfalten. Und so jagen die Sicherheitskräfte der Reitschule die Diebesbanden durchs Gebiet, als erneut ein Ambulanzfahrzeug das Bollwerk runterbraust und am «Kapitel», das kalte Grosse kostet acht Franken, zum Stillstand kommt: Ein Mann im Anzug liegt angefahren auf dem Asphalt. Es sollte sich um Herrn Greuel handeln, CEO des grossen Fussballclubs. Und dass er sich im Spital schliesslich, so würde sich der Boulevard Wochen später zu berichten freuen, erfolgreich in «seine» Krankenschwester verliebt hat – es muss eine der wenigen glücklichen Fügungen dieser Nacht bleiben. Vom tragisch-heldenhaften «Chügelidealer» und seinem gesundheitlichen Verbleib steht jedenfalls nichts in den Zeitungen. Der «Bund» titelt am folgenden Montag bilanzierend: «Flaschenwürfe auf Einsatzkräfte in Bern».

Schützenmatte, wer bist du?

«Die den Schiessbetrieb begleitenden Volksbelustigungen konnten sich in Form von Rummel- und Chilbiplatz und Messebetreib im Frühling und Herbst auch in völlig veränderter Umgebung bis in die Gegenwart retten. Dies ist zu betonen, sind solche Veranstaltungen doch Ausdruck jahrhundertealten typisch städtisch-gesellschaftlichen Lebens.»
(Hanspeter Rebsamen, Kunsthistoriker, in einem Gutachten, 1987)

«Mir gefällt die diesjährige Gestaltung, weil sie nicht wie ein Festival, sondern wie ein Kunstprojekt aussieht.»
(Juerg Luedi, Koordinator Neustadt-Lab, 2018)

«Videoüberwachung könnte einen Mehrwert bieten.»
(Berner Gemeinderat, 2019)

Als beim ersten Neustadt-Lab 2015 der gutmütige Platzkoordinator Juerg Luedi auch vagen Projekten freie Hand liess, installierte sich schnell eine selbsternannte Werkstatt – die nichts geringeres war als eine kleine, selbstorganisierte Outdoor-Fixerstube zwischen Palettenmöbeln. Also wurde Eisen gestemmt und Folie erhitzt auf dem Platz der guten Hoffnung, jedem ein Plätzchen an der Sonne – und durch die beissenden Rauchschwaden hindurch blitzte das schönste Potential dieses Platzes auf: die Vergegenwärtigung unterschiedlichster Realitätsprinzipien. Die Schützenmatte ist auch Wunde, eine Ambivalenzenfabrik oder die flachgetretene Büchse der Pandora.
Wir nannten die Werkstatt, bald verschwunden, wie sie gekommen war, liebevoll «Luedis Letten».

Schützenmatte, wer bist du?

«Denkt tatsächlich jemand, dass ohne unsere Silos plötzlich die Nachfrage nach Drogen sinkt, dass Menschen in prekären Verhältnissen plötzlich neue Möglichkeiten geschenkt bekommen?»
(Pumba, Koordinator PlatzKultur, 2020)

«Dieser Platz hat mich schon einige Lebensjahre gekostet.»
(Name und Dienstnummer unbekannt, Regionalpolizei Bern, 2014)

«Dieser Platz hat mich schon einige Lebensjahre gekostet.»
(Reitschülerin, Name den Autoren bekannt, 2020)

Ende März 2020 ist fertig, Anfang April ist es offiziell: Die übersaisonale Zwischennutzung auf der Schütz gilt als gescheitert, noch bevor eine «stillere Nutzung, mehr Sport und leise Veranstaltungen» ausprobiert werden, wie es Blaise Kropf von der städtischen Präsidialdirektion formuliert. Auf der Schützenmatte sollen zwar weiterhin Veranstaltungen passieren, allerdings «bedürfen diese freilich der üblichen Einzelbewilligungen». Es ist auch so ein stiller Abgang.

«Wir wollten ebenso wenig Trutzburg wie Steigbügel für prozessierende Klägerschaften sein», beschreibt Pumba von PlatzKultur die Situation. Steigbügel deshalb, weil die Lärmbeschwerden aus dem Altenberg nie den wirklichen Emissionen des Projekts gegolten hatten. Die beanstandeten Ruhestörungen rührten von unter der Brücke zwischen Reitschule und Schützenmatte, unter der Brücke gibt es keinen offiziellen Ansprechspartner. PlatzKultur sollte, so die mittlerweile offenbare Taktik der Beschwerdeführer*innen, diese Bars zum Verstummen bringen. «Die fordern eigentlich von der Stadt, gegen die illegalen Partys vorzugehen – erst dann würden sie die Lärmklagen gegen uns zurückziehen», sagt Pumba. Eine auch Dank dem Einspracherecht bei Baugesuchen, die für eine längere Bespielung des Platzes zwingend notwendig wurden, wirksame und letztlich tödliche Drohung.

Einsprachen sind Angriff, eine Absage an das Engagement. Man muss nicht mal linke Utopien studieren, um von dieser Realität enttäuscht zu sein: Gerade auch die bürgerliche Logik kollabiert ohne Beteiligung. Die so konzipierte Stadt braucht notwendigerweise ihren Citoyen, der aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilnimmt und dieses mitgestaltet. Das Beharren nur auf dem eigenen Recht ist hingegen eine bourgeoise Gewohnheit nach undemokratischem Prinzip. Das ergibt keinen Fortschritt, noch nicht einmal eine funktionierende bürgerliche Stadt.

Das sagen die Theoriebücher, doch Distanz muss man sich leisten können. Kevin und Pumba kümmert die bürgerliche Desillusion wahrscheinlich wenig: Die Betreiber von PlatzKultur verkörpern das Gegenteil von Distanz zu diesem Platz. Sie sind Schachmatt gesetzt. Wer sonst an diesem Schachbrett sitzt, was sich unter den schwarzweissen Quadraten noch alles auftäte an Abgründen und Unwägbarkeiten – Theoriebücher sind voll mit Versuchen darüber, aber eben: Man sieht den zwei Initianten von PlatzKultur den Abnützungskampf an, als müssten sie erst einmal ausschlafen. Der grosse Knall zum Ende bleibt aus. Auch in Bern ist Seuche – ein Schallschutzdämpfer für die Marktschreier von Lokalpolitik und -journalismus, die sich in vergangenen Normalsommern so gerne am Räuber und Poli auf der Schütz bedient hatten, um ihr Sommerloch zu stopfen. Ende Juni gibts dann doch noch was zu berichten: Junge Menschen feiern auf dem Platz ganz ohne Schutzkonzept. Im Juli brütet der Platz wieder komatös unter der Sonne vor sich hin, ein Brennpunkt auf Standby. Sommerferien, Sendepause?

Schützenmatte, wer bist du?

«This is the world you have made yourself, now you have to live in it.»
(Nina Simone, in ihrer Autobiografie, 1993)

«When it rains in here, it’s storming on the sea.»
(Billie Holiday, Stormy Blues, 1954)

«My mother always told me, even if a song has been done a thousand times,
you can still bring something of your own to it.»
(Etta James, Jahr unbekannt)

Manche Menschen können keine Pause machen. Anfang August ist die Schützenmatte nur scheinbar unbelebt; Pingpong, Schachbrett, Zwickmühle – die Geschichte des Platzes als kleine Ludothek. Rund um diesen Platz wurde das Lied der Partizipation so oft gesungen, in verschiedenen Tonarten und Registern, hört noch irgendjemand hin?

Die Silos hat man abtransportiert. Und die Menschen im Prekariat, die Leute auf dem Platz, sie haben tatsächlich keine neuen Möglichkeiten geschenkt bekommen. Aber ganz hinten bei der Betonschüssel, wo die Skater*innen ihre Tricks probieren in jeder Wetterlage, fast schon in der Obhut der Eisenbahnbrücke, steht dieser Container.

Fabrizio begrüsst uns, wie er alle hier begrüsst, Handschlag-Ghettofaust und ein Lächeln, das aus den Augen scheint. Rund um den Treffpunkt Medina haben sich einige Leute versammelt, «es ist recht ruhig heute», sagt er. Trotzdem sind gegen dreissig Gesichter da, kommen und gehen, trinken Kaffee oder Tee, haben Fragen. Ein Fernsehgerät zeigt die Young Boys auf dem Weg in den Cupfinal, der Flachbildschirm ist auf einen Kinderwagen montiert. Das autonome Projekt Medina ist seit einem Jahr auf diesem Platz und seine Geschichte eine Grassroot-Story, gegen alle Widrigkeiten auf Asphalt gewachsen.

Fabrizio erzählt von seinen Anfängen auf der Schützenmatte: 2019 verkaufen er und ein paar weitere junge Leute Essen und Selbstgenähtes, eine Solidaritätsaktion für syrische Geflüchtete. Es ist die Begegnung mit dem Alltag auf dem Platz; Zwist im Viertelstundentakt, Handgreiflichkeiten, Dynamiken, auch Freundschaften. Der Soli-Laden verschwindet, einige Aktivist*innen wie Fabrizio bleiben, vor allem stossen viele neue dazu. Sie alle sind angetrieben vom dringenden Gefühl, hier etwas machen zu müssen. Auch Dragana ist Teil des Projekts. Dragana ist schon lange auf der Schütz; unermüdlich hat sie sich den Problemen der Leute auf dem Platz angenommen, zunächst als Platzwärtin. Weit darüber hinaus hilft sie, wo sie kann, schlichtet, verbindet und lässt Menschen bei sich unterkommen. Sie hat eine Idee davon, was dem Ort helfen könnte. Ihr gesammeltes Wissen gibt sie jetzt im Projekt Medina weiter. Ein Projekt mit viel Leidenschaft und wenig Ressourcen: Dank einigen hundert Franken aus der ersten Soli-Cypher hat der Container anfangs ein halbes Jahr «gewirtschaftet»: Einmal die Woche Tee, Kaffee, Znacht gekocht und gratis abgegeben. «Krass, wie lange das hingehalten hat», meint auch Fabrizio, selber etwas erstaunt.

Vordergründig ist Medina ein poetischer Dreiklang, eine lebendige Küche; gemeinsam essen, trinken, spielen. Das klingt wie ein Reduktionismus von Gemeinschaft. Dahinter verbirgt sich die Prosa eines mühsamen Alltags jener, denen das gute Leben versperrt ist. Auf einen ruhigen Tag folgt manchmal ein schlechter Tag, ein Messer blitzt auf oder auswärtige Diebesbanden kommen an, meist aus der Romandie. Aber die Menschen gelangen auch zum Medina mit Papierbergen von Asylbürokratie, die hier mithilfe freiwilliger Jurist*innen entschlüsselt wird. Sie kommen an mit Wunden oder Zahnproblemen, mehrmals pro Woche verarzten Mediziner*innen aus Biel Versehrte, ebenfalls freiwillig. Das Projekt Medina hat sich professionalisiert – und mittlerweile sogar etwas Geld beschafft, bei Stiftungen und Organisationen, damit Materialkosten und ein kleiner Teil der Facharbeit bezahlt werden können. Die jungen Aktivist*innen machen am kompliziertesten Ort der Stadt nichts weniger als aufsuchende Sozialarbeit – ein paar hundert Franken reichen da schon lange nicht mehr.

Krokus zeigt noch immer gerne Muskeln. Und wenn die Drogeneinheit mal aussetzt, umkreisen die Streifenwagen der Kantonspolizei den Perimeter. Auch an diesem Donnerstagabend fährt eine Streife vorbei, versperrt kurz die Sicht aufs Fussballspiel, zieht wieder ab. Eine Art Flimmern steht über dem Gelände, subtile Unrast macht sich breit. Man glaubt zu bemerken, dass sie vor Ort ist, noch bevor die Polizei wirklich sichtbar wird. Auch so behindert die behördliche Strategie die Arbeit mit den Leuten auf dem Platz.

«Dieser Container ist keine Bespielung des Platzes», Fabrizio und seine Gefährt*innen wollen auch keinen Masterplan für die Schützenmatte formulieren, schon gar nicht in städtebaulicher Hinsicht. «Es geht uns um die Leute hier.» Darum, dass einige der hier gestrandeten jungen Männer in der Küche mithelfen und zu Freunden geworden sind, auch jenseits der Strasse. Dass sich die normalerweise eher isolierten ethnischen Gruppen zu durchmischen beginnen, neue Bündnisse entstehen, dass gemeinsam zur spartanischen Infrastruktur geschaut wird. Dass dieses Gefühl entsteht, der Medina Social Club gehöre allen, die daran mitarbeiten wollen.

Plötzlich klingt auf dem Platz diese alte Melodie. Frei improvisiert klingt sie am schönsten.

«Einmal sassen wir alle beim Container, irgendwas zwischen Feierabend und Kollektivsitzung. Wenn du auf den Platz geschaut hast, sahst du all die Leute von hier, sicher vierzig Menschen, Eritreer, Somali, Nigerianer, Maghrebiner, auch solche, die voreinander schon das Messer gezückt haben. Alle sind sie beim Fussballfeld gestanden und hatten einen guten Abend, einen kleinen Frieden, keinen Stress.» Partizipation lässt sich nicht verordnen. Sie ist harte Arbeit: Den Leuten in die Augen schauen, alle grüssen, alle kennen, Enttäuschungen hinnehmen und mit kleinen Schritten zufrieden sein. Vielleicht gehört dieser Platz wirklich selbstverwaltet – oder von einem Einkaufszentrum überbaut.

Diese Reportage wurde im Rahmen des Stipendiums «Coup» finanziell unterstützt. Wir danken dem Verein Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz für die freundliche Berücksichtigung.