Strobo Nackte Haut

Konserven, Kontext, Konzerte. KSB schreibt monatlich über Musik und Pop entlang dem schönsten Irrtum der Welt.

01:59, 150bpm, «Was ist das für eine Musikrichtung?» frage ich die Leute und sie lachen und sagen: «Keine Ahnung.» Im Dachstock fliegt ein dreidimensionales Tribal, eine Schaufensterpuppe und so ein malträtiertes Bäbi, das DJ-Pult steht in einem Käfig aus Maschendraht. Die Guillotine als Dekoelement, von der man im Vorfeld munkeln hörte, haben sie am Ende weggelassen.

02:37, 153bpm, «Industrial? Ich habe keine Ahnung von Genres.» «Endzeit» heisst das hier: Angefangen mit einer Party unter einer Bümplizer Autobahnbrücke, geil wars, sagt mir einer vom Veranstaltungskollektiv, die Bullen kamen nach vier Stunden, konnten aber nur auf einer Geländeseite mit dem Auto zufahren: Da hatten sie das PA auf der anderen schon gemütlich rausgetragen und sind damit abgehauen. «Dann waren wir im Kapitel, jetzt Dachstock. Ist ein bisschen ein Traum» sagt er und strahlt ganz glücklich. Der Abend ist ausverkauft, die Leute standen draussen um Mitternacht bis zum Viadukt Schlange. Die meisten im Kollektiv sind um die 20, scheinen diesen Anlass mühelos aus dem Handgelenk zu schütteln. Aber nicht abgeklärt, und das ist wichtig.

04:57, 160bpm, «Keine Ahnung. Progressiv?» Auf einem Zettel beim Eingang steht«Triggerwarnung: Strobo Nackte Haut» und ja es gibt viel nackte Haut, Harnesses, Lederhalsbänder, Ketten um nackte Oberkörper, Netzstrümpfe. Es ist eben ganz anders als wenn an einem Metalkonzert zwölf Typen mit langen Haaren ihre schwitzigen Torsi aneinanderklatschen oder im Club das Testosteron so tief hängt, dass die Jungs in gegenseitigem Dominanzbestätigen ihre T-Shirts ausziehen müssen; die Party hier ist im Gegenteil so queer, wie es eine nicht mal als queer deklarierte Party wohl sein kann. Im Gegensatz zum langweiligen Männlichkeitsgebaren braucht es Mut, in einem Harness rauszugehen, sich so klar queer- und fetischkonnotiert anzuziehen – und hier hat es wirklich Platz.

05:48, 171bpm, «Hm, weiss nicht, HC?» Der aggressive Style ist ein Spiel, die Stimmung extrem friedlich – in einem vollen Laden, in dem die Menge bis zum Schluss dicht an dicht tanzt («bei Jeans for Jesus wär das nie so», sagt jemand vom Dachstock und freut sich), ein bisschen substanzbedingt, bestimmt. Aber in dieser perfekten Mischung aus Bedacht und Abrisslust eine Fest zu schmeissen, hat auch mit Haltung zu tun. Vom Dachstock heisst es am Sonntag: keine einzige negative Rückmeldung im Debriefing, auch nicht vom Wellness.

«Also das hier ist ganz klar Hardtech, langsam gehts jetzt zu Gabber über» sagt mir endlich ein Kundiger vom Kollektiv, dann wird er von der Menge verschluckt.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Oktoberausgabe des KSB Kulturmagazins.