Warum nicht alle Bullen Bastarde sind

… oder das Portrait einer Haltung, mit Evrim Mustu.

«Ich hatte keinen Spass an der Sache, das hat mich persönlich null gepusht. Die Verantwortlichen anzuklagen. Oder der Verwaltung die Missstände im Durchgangszentrum zu vergegenwärtigen. Aber drei Suizidversuche in acht Monaten und in zwei Fällen dauerte es länger als neunzig Minuten, bis die Ambulanz überhaupt vor Ort war; da ist jede Grenze überschritten. Da sind wir hin, als Mitglied der migrantischen Selbstorganisation ROTA musste ich das machen. Das war gar keine Frage, sondern dem Umstand geschuldet, dass da Menschen in den Freitod gehen und Punkt.»

Evrim ist Aktivist, 31 Jahre alt und in Süddeutschland aufgewachsen. Seine Eltern kamen in den Siebzigern als Kinder von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei. In Berlin hat Evrim Politikwissenschaft studiert. 2013 war er für ein Praktikum fünf Monate in Kairo, kurz vor der Machtübernahme von Abdel Fattah el-Sisi. In Ägypten wurde er sowohl Zeuge der befreienden Kraft einer Basisbewegung als auch von ihrer tiefen Ernüchterung nach der Konterrevolution. Evrim war eine kurze Zeit lang Sekretär bei der Unia, momentan lebt er in Zürich.

Seine eingangs zitierte Aussage bezieht sich auf eine Aktion in Walzenhausen, Appenzell Ausserrhoden. Anfang April war das, ungefähr 750 Meter über Meer unter einen zähen Hochnebeldecke, vor dem Asylzentrum «Sunneblick». Eine Traube Menschen ausgestellt im Grau. Irgendeine Ostschweizer TV-Kamera, die Staatsgewalt, Beamte, die Bewohner*innen und ein paar Aktivist*innen. ROTA war da, um die Häufung der Selbstmordversuche anzusprechen und der Perspektive der Betroffenen Raum und Schärfe zu verschaffen. Die Insass*innen im Sunneblick unterliegen einem strammen Tagesplan, geprägt von Reproduktionsarbeiten: Reinigen, Kochen, Garten- und Wegpflege. Dazu gehört auch das Toilettenputzen der Heimverwaltung oder das Zigarettenstummelsammeln – fürs Image, vorne im Dorf. Wer sich nicht daran hält, wird sanktioniert, kriegt beispielsweise weniger Taschengeld.

«Das wird Asylzentrum mit Integrationscharakter genannt, im Geiste Blochers und mit Schützenhilfe von Karin Keller-Sutter. Und vieles deutet darauf hin, dass diese Definition schlicht als Disziplinierung seinen Ausdruck findet. Verstehst du, es ist nicht das Gesetz, das einfach rassistisch ist. Liest man es, klingt es womöglich gar nicht so schlecht. Die Rassifizierung passiert in der Autonomie der Verwaltung. Dieser Reflex, woher auch immer, vom Erziehen nicht ablassen zu können, zu denken, aus diesen Personen noch Menschen machen zu müssen. Lieben Dank, aber das sind schon Menschen.»

«Wie war denn das mit dem Bullen, du hattest am Telefon etwas angetönt. Der hat euch Recht gegeben?»

«Guck, das war so: Der fiel mir schon auf, als wir mit dem Auto hochgekommen sind, wie er uns auf etwas hingewiesen hatte, dass man die Karre unten lassen müsse. Er war – wie soll ich sagen – das war nicht diese geheuchelte Höflichkeit der Uniform, nein, der war freundlich. Und dann kommt der auf mich zu, nachdem wir dem Kantonsbeamten der Migrationsbehörde auf dem Plätzchen vor dem Sunneblick die Standpauke gehalten hatte – weisst du, es ging ja vor allem in Richtung prädominanten Widerstand, also darum, zu zeigen, dass die ihren eigenen Prämissen nicht gerecht werden. Allen Bewohner*innen wird beispielsweise vollumfänglicher Zugang zum Gesundheitssystem und so weiter zugesichert, wir brauchten also kaum Vorwürfe vorzubringen, sondern bloss auf die Diskrepanz von Realität und Vorsatz hinzuweisen. Wir haben einfach harte Fragen in den Raum gestellt. Auf jeden Fall, danach hält mich der Beamte auf und sagt: ‹Ich muss Ihnen das jetzt einfach sagen: Sie waren gut organisiert, friedlich und zielorientiert – und wenn man das so macht, dann darf man auch die harte Konfrontation suchen. Und ich wünsche Ihnen also noch einen schönen Tag.› Hey, ich war echt baff, das zu hören. Ein waschechter Demokrat. Das hat verdammt gut getan. Meiner Kampfmoral auch.»

«Den Bullen nicht mehr als Bastard zu verstehen, hat deine Kampfmoral gesteigert?»

«Natürlich ist die Polizei dort nicht unser Freund gewesen, aber offensichtlich auch nicht der absolute Feind. Man muss doch viel eher von einer zumindest subjektiven Beweglichkeit ausgehen, das ‹Andere› nicht einfach als fix denken. Die objektive Ordnung der Polizei wandelt sich ja schliesslich auch, sie muss sich, um stabil zu sein, den systemisch immer neu erzeugten Unsicherheiten anpassen können. Und auch der Beamte, der mir gegenüber steht, ist nicht einstimmig – darin liegt die Möglichkeit. Davon brauchst du ein Verständnis, wenn du politisch aktiv sein willst. Wenn du von Starre ausgehst, na, dann gute Nacht – aber vielleicht willst du ja gar keine Politik machen. Für mich war es so: In diesem Moment ist diese Person in Uniform tatsächlich nicht mein Feind.»

«Aber das passierte doch genau in politisch vorgegebener Form. Ihr habt mit Argumenten überzeugt, ein braves, demokratisches Vorgehen.»

«Es geht darum, das Potential der Situation zu erkennen und dann adäquat zu handeln, von deiner bevorzugten Praktik abzusehen, wenn sie der Sache nicht dienlich ist. Im richtigen Moment das Richtige zu tun versuchen, darum gehts. Hier war es einfach, Rassismus als Realitätsprinzip zu vergegenwärtigen – dort hochgehen, das ansprechen und die Rechtfertigungen der Gegenseite auf die Resonanz von harten Fakten knallen zu lassen. Und das mit dem Polizisten war schlicht ein Moment individueller Genugtuung – Motivation. Viel wichtiger ist, dass wir uns bei allen Menschen dort oben mit einem Versprechen verabschieden konnten. Wir sehen nicht weg. Kontrolle kann auch von unten kommen.»