Willst du auch mal aufs Sofa

«Ich stelle es mir sehr unordentlich vor, also ohne Ordnung und Übersicht. Und schön, weil fast alles darin vorkommen kann – »

«Man sei ständig gegen die Dinge getaumelt, aber dabei zuversichtlich gewesen.»

Es scheint sich dieser Tage alles zu verdichten, und trotz skeptischer Haltung gegenüber Jahresrückblicken o.ä. dreht sich mein Denken ärgerlich zum Resümieren hin – auch wenn die Ergebnisse mager ausfallen oder bloss weitere Fragen sind, etwa, ob man sich vielleicht irgendeinmal daran gewöhnt, immerzu durch Gestrüpp zu gehen oder nicht weit in die Ferne blicken zu können. Ohne mich zu schämen kann ich jedoch sagen, dass mich die Stadt Rom in diesem Jahr begleitet hat, so sehr wie nicht mehr seit Nonna I. gestorben ist am 23. Dezember 2018 und wir sie per Autokonvoi in den Vatikan gefahren und auf dem dortigen Friedhof begraben haben. (Das ist aber eine andere Geschichte.)

In regelmässigen Abständen von circa fünf Monaten habe ich also den Zug genommen 07:34 via Thun Spiez Stresa usw. Einmal hatte ich einen Verletzten dabei, der immer nur Busfahren wollte, aber Busfahren heisst in dieser Stadt vor allem warten und Zahlen auswendig lernen für nichts. Da haben wir eben geschrieben bzw. über das Reisen in der Literatur nachgedacht, sardische Kaffees und Biere getrunken. Das zweite Mal eine alte Geschichte: Es war heiss, wir sind im Allgemeinen tendenziell gekrochen und haben uns mit anderen Vögeln angefreundet, in der Stube zerfliessend sagten wir Dinge wie «willst auch du mal aufs Sofa». Und haben uns gefragt, dürfen wir jetzt schon mit dem Trinken anfangen. Das dritte Mal war es ein neu erschaffenes Dreieck mit sehr gleichlangen Seiten, so haben wir uns die Renaissance angeschaut und Christbaumschmuck gekauft, wir wurden überall überaus freundlich von den Kellnern ausgelacht. Die Postkarten, die alle nach Hause schickten, drehten sich in erster Linie ums Essen.

Ein paar Sachen nachgelesen habe ich jeweils, es ging da interessanter-, aber wohl nicht erstaunlicherweise um das Begehren in unterschiedlicher Ausformung. Zum Beispiel um Werner Bruni aus Spiez, der 1979 das Unglück hatte, als allererster Mensch der Schweiz im Lotto eine Million zu gewinnen. Um den Hunger und das Vögeln, und den imperialen Geist, der in alledem steckt; oder um die heilige Teresa, die sich ihrem Gott so sehr hingab, bis sie ganz und gar verschwand. Das ist auch eine Emanzipationsgeschichte und «Aus der Zuckerfabrik» von Dorothee Elmiger sowieso eine Erzählung über Abhängigkeit, demnach über sehr viele verschiedene Dinge. Es ist auch ein Buch, das ich ausgeliehen habe und seither gehortet, weil ich seine Abwesenheit tatsächlich nicht aushalten könnte und obwohl ich den Besitzer, ein sehr netter Mensch, eine Zeitlang zwischen Frühling und Herbst fast jeden Tag gesehen habe. Mir ist das nicht einmal peinlich.

Der Verletzte von der ersten Reise hat auf dem Balkon stehend gesagt, Rom ist wie ein schlechter, zu gut aussehender Liebhaber, er macht dich fertig mit seinem ewigen Zuspätkommen und Nichtauftauchen, aber dann siehst du ihn von weitem – so schön, wie er da liegt und leuchtet im Dunkeln, zu schweben scheint im Hellen. Dann beim nächsten Mal ist es wieder die gleiche Scheisse und so fort.

Wenn umgekehrt ungefragt auf einmal ein Gast im Haus steht, auf den man nicht gewartet hat, ist es mit der Abhängigkeit ebenfalls nicht weit her. Wie arrangieren sich die Beteiligten mit ihrer neuen Situation, ihrer Faszination füreinander oder der Abneigung, die beide möglicherweise mit Liebe zu verwechseln sind? Ariane Koch reiht in «Die Aufdrängung» die eigensinnigsten Sätze und Passagen zu einer Erzählung, die diesen Fragen keineswegs auf den Grund geht. Wer ist das gottverdammt hier in meinem Haus, wo ich allein in hohem Masse zufrieden war, zumindest doch allein? Wer drängt sich hier wem auf? Und wieso kann diese Erzählerin mit all ihrer Wut im Bauch ihre dumme Kleinstadt nicht verlassen? Beinah ein Kammerspiel in einem Anwesen mit zehn Zimmern, das mehr und mehr von dieser komplizierten Beziehung beheimatet wird. Das Verlassenwerden und das Ankommen liegen nah beieinander, so ist dieses Buch ein wenig wie dieses Jahr, das nun endlich zum Erliegen kommt: sehr lustig und sehr traurig zu ungefähr gleichen Teilen, jedoch unberechenbar verteilt. Beim nächsten Mal war es tatsächlich so, dass sich die Wege klarer angefühlt haben, doch eben fast geschmolzen unter der Hitze, sodass sich das Gehen immer noch unbeholfen gestaltet hat. Halbwegs behilfliche Substanzen haben uns aber weit hinauf in die Luft gewirbelt. Beim dritten Mal erlaubte der Liebhaber einen beinah freundschaftlichen Umgang. Eine Scheissstadt, habe ich trotzdem gesagt, aber glauben wollten mir die andern nicht.

Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Carl Hanser, München 2020.
Ariane Koch: Die Aufdrängung. Suhrkamp, Berlin 2021.

Dieser Text erschien zuerst in der Januarausgabe des KSB Kulturmagazins.