Zu warm für Punk

G. ruft an und will Abendprogramm. Ich biete ihm meines an: Lausanne Underground Film & Music Festival, wir sind unterwegs zu Pole Kas «Avalés par la forêt». Ich lese ihm den ersten Satz des Ausstellungsbeschriebs vor: «Pole Ka dessine et égare ses étranges personnages aux corps recomposés dans des paysages imaginaires et des scènes grotesques peuplés d’insectes et végétaux fantastiques.» «Ah, typisch», gibt sich G. als langjährigen Luffeur zu erkennen (ebenso, als er nach den ersten zehn Minuten von «Flux Gourmet» sagt: Das ist nicht so mein Style, und den Leuten über die Beine steigt). So immaginaire und fantastique ist vieles bei Pole Ka dann doch nicht, wäre man etwas waghalsiger (oder einfach ehrlicher) gewesen beim Schreiben des Beschriebs: Die weiblich gelesenen Figuren haben die Hände zum Schutz gegen die herunterregnenden Babys erhoben, hacken in einem düsteren Wald Bäume, die verdächtig nach Penissen aussehen oder bewegen sich durch ein Feld voller feuchter, zungenartiger Auswüchse. Spinnenbeine ziehen an Nippeln, ein Penis lugt wie ein Regenwurm aus dem Boden hervor, von Mistkäfern umzingelt, immer wieder Insekten, die sich in Frauenkörper fressen, viel zu viele Nabelschnüre und Blut und Körper, die offen sind, wo sie zu sein sollten.

Irgendwann sind wir genug verstört und machen uns auf den Rückweg Richtung Festivalgelände. Dort hasten uns geduckte Hunde entgegen, wir hören den Grund für ihre Eile schnell: Haarsträhnen fliegen über den Publikums-Horizont, inspiriert von Cruella de Vil büschelweise blondiert und schwarz, dazu Hardcore Punk aus der Besetzer:innenecke des Vertrauens. (Wahrscheinlicher ist, dass Punk-Hunde sowieso taub sind und es im Zelt einfach zu warm war für das beginnende Winterfell.) Zum Frühstück essen die Feminist:innen Cops, verrät das Albumcover von Dismenol, und man glaubt es gern.

Inzwischen ist die Chapelle de Guillaume Tell, vom Radio Bollwerk in Beschlag genommen, zu einem Wohnzimmer geworden. Die Dunkelheit steht der Kapelle und seiner Inventur besser. Auch die Bauwagen, die am Nachmittag etwas verloren ihren Inhalt auf das Festivalzentrum leerten, haben sich in gemütliche Höhlen verwandelt. Vom Flimmern eines Röhrenbildschirms angelockt betrete ich einen von ihnen. In der Ecke schreckt jemand aus seinem Ohrensessel hoch, wischt sich etwas Sosse aus dem Bart, schaut mit vollem Mund entschuldigend drein und macht mir Platz auf dem Nachbarsessel. Oh, you’re home early – wessen Zuhause es ist, wissen wir beide nicht.