Aber hier leben, nein danke

Das Tram wirft mich am Samstagabend kurz vor zehn im Wankdorf aufs Pflaster. Auf der grossen Allmend hat der Zirkus Knie sein Zelt aufgeschlagen. Da kostet ein Ticket für einen Sitzplatz schnell mal einen Viertel dessen, was ich seit April monatlich an Kurzarbeit erhalte. Aber der Zirkus interessiert heute nicht, die kleinen Gruppen, die aus allen Richtungen auftauchen, strömen am Zelt vorbei und fliessen auf der kleinen Allmend zu einer grossen murmelnden Masse von Menschen zusammen. Es ist dunkel und niemand weiss so genau.

Jeden Tag dasselbe. Jeden Tag aufstehen, Kaffee trinken, Schuhe binden. Die grauen Strassen, die immer gleichen Fassaden, die sich ständig verändern. Sogar die Veränderung bleibt gleich. Doch heute ist irgendetwas anders. [carnaval des rues]

Es hat sich rumgesprochen, um die achthundert Menschen aus der ganzen Schweiz sind da, der Carnaval des Rues ist ein Zusammenschluss von Menschen aus verschiedenen Schweizer Städten. Die Polizei wartet bereits mit Grossaufgebot, offensichtlich gut vorbereitet und auch die Medien haben von der Sache Wind bekommen. Kurz vor Mitternacht wird der erste Artikel mit verschwommenen Bildern und detaillierten Schilderungen eines sogenannten Leserreporters erscheinen. Über dem Feld hängt leuchtend das Tamedialogo und an der Ecke glänzt die Tesla-Niederlassung.

Die Entwicklung dieser Gesellschaft lässt uns keine Ruhe mehr. Wir mussten ausbrechen aus der Lethargie, der Gleichgültigkeit. Genug davon, wie unser Leben immer mehr von Kommerz, Konsum, Arbeit, Vereinzelung und Überwachung dominiert wird. Wir möchten, dass sich die Welt in eine andere Richtung dreht. [carnaval des rues]

Der Umzug will Richtung Stadt ziehen, stockt aber bereits nach wenigen Metern, Auge in Auge mit dem Flutlicht des Wasserwerfers, der übliche Mexican Stand-Off zwischen der Berner Polizei und jenen, die von der Sehnsucht getrieben sind, sich im urbanen Geflecht Platz zu schaffen. Nach tanzen ist der Menge nicht mehr, die grossen Glasscheiben des Teslagebäudes klirren bald, halbmotiviert zusammengetragene Strassenbarrikaden brennen vor sich hin, manchmal knallt es von irgendwoher und auch Feuerwerk gibt es. Später werden die zusammengebastelten Wagen brennen, die Migros, die Credit Suisse, das Patriarchat symbolisch in Flammen gesetzt. Die Polizei wird das ganze Aufgebot einsetzen: Wasserwerfer, Gummischrot, Tränengas.

Unser Dasein ist dreckig, ungerecht und zufällig – seht alle gefälligst runter, seht ihr die Strassen? Verstopfte graue Adern, zugegeben, aber sie pumpen. Wir wollen rauchen, Feuerlöscher können auch Farbe spucken. Potential überall, im Unvorhergesehenen liegt die Geschichte. Arrogant geschnürte Krawatten können Revolten auslösen, Gesten können Ketten sprengen. Ich will ein Fest feiern, jetzt, wenn ich diese Strassen sehe. Mit Menschen, die auf später brennen, die Lust haben an der ganzen Scheisse. Ich glaube nicht an die Apokalypse. [Felice]

Ich löse mich früh aus dem Umzug und verziehe mich übers Feld Richtung Ostermundigen und über Umwege zurück Richtung Wankdorf, über Kreuzungen und in den Wald hinein. Als sich der Wald lichtet, leuchtet unten die Postfinance-Arena und der Zirkus Knie. Dahinter stehen Rauch- und Tränengasschwaden in der Luft, zwischen Autobahn, Stadion und Ostermundigen. In der Stadt, in der wir gerne leben wollen würden.

Ich mag die Spiegelung der Luft
Und wenn die Sehnsucht nie verpufft
Den Glanz des Lebens in einem Tag
Ich mag den Zweifel, der an mir nagt
Wenn meine Angst mich schnell verlässt
Ich mag den Tanz, das Idiotenfest
Wenn wir irren, nachts im Kreis
Eine Bewegung gegen den Fleiss
All das mag ich, all das mag ich
Aber hier leben, nein danke
[Tocotronic]